Soll das „Vgl.“ abgeschafft werden? („GWP-History“, Teil 4)

Ein Leser schreibt in einem Kommentar zu meinem Teil 3 einer Geschichte der guten wissenschaftlichen Praxis, dass die Verpflichtung zum „Vgl.“ das Einfallstor „für die dann in den späten 80er und in den 90er Jahren beginnende Unsauberkeit beim Zitieren“ geboten habe. Das ist ein interessanter Gedankengang: Denn erst mit der Migration des „Vgl.“ vom Fußnotentext in den laufenden Fließtext könnte es dazu gekommen sein, dass die Umschreibe-Unkultur ihren Lauf genommen hat: Das „Vgl.“ stand vielleicht ab den 1980er Jahren zunehmend nicht mehr für Wiedergaben in komplett eigenen Worten, sondern – entgegen der früheren Definition eines sinngemäßen Zitats – für leichte Umschreibungen von Originalstellen.

Was kann „Vgl.“ alles bedeuten?

  • Ursprünglich kennzeichnete man damit im Fließtext nur Verweise innerhalb des eigenen Werks, also etwa „Vgl. die Abb. S. 23“ oder „Vgl. Kapitel I“.
  • Dann trat das „Vgl.“ in Fußnotentexten auf, und zwar immer dann, wenn nicht wörtlich, sondern sinngemäß zitiert wurde. „Vgl.“ war verknüpft in die (Deutsche) Fußnotenzitierweise.
  • Erst sehr spät migrierte das „Vgl.“ in die laufenden Fließtexte, ich vermute, seit ca. 1970.
  • Bereits in den Fußnoten, aber erst recht im laufenden Fließtext kann „Vgl.“ sowohl „Siehe auch bei…“, somit „Vgl. ähnlich…“, als auch „Vergleiche dazu die andere Ansicht von…“, somit „Vgl. hingegen bedeuten. Auch kann „Vgl.“ weiterführende Literatur anzeigen.

Und nun kommt die Pointe: Ich stelle seit Jahrzehnten fest, dass oft nicht ausreichend über die Bedeutung des „Vgl.“ nachgedacht wird, denn es gibt noch eine weitere Dimension.

Denken wir etwa an folgenden Satz:

Der Radikale Konstruktivismus ist eher ein interdisziplinärer Diskurs als eine kohärente erkenntnistheoretische Bewegung (vgl. Schmidt 1989).

Das kann zwei Grundbedeutungen haben:

1. Schmidt äußert in seinem Werk denselben Gedanken, weist auch darauf hin – und dann hoffentlich in anderen Worten als hier im Beispiel!

2. Der Autor des fett gedruckten Satzes hier im Beispiel will zeigen, dass Schmidts Werk ein Beispiel von dem ist, was der Satz behauptet: also ein Beispiel für ein Werk, das eher einem interdisziplinären Diskurs als einer kohärenten erkenntnistheoretischen Bewegung zuzuordnen ist.

Zweites Beispiel:

Die Cultural Studies sind eine eher linke Denkbewegung (vgl. Williams 1981).

Steht dieser Gedanke auch bei Williams 1981 oder ist Williams 1981 ein gutes Beispiel dafür?

„Vgl.“ kann somit fast immer zumindest zweierlei bedeuten:

  • Ebendiesen Gedanken, diese Idee findest Du auch beim Autor N.N. an der und der Stelle („vgl. ähnlich bei…“).
  • Oder aber: Autor N.N.s Werk fällt unter meine Behauptung soeben („vgl. dafür prototypisch…“).

Was tun in dieser Situation? Sollen die Geistes- und Sozialwissenschaften zurückrudern und das „Vgl.“ abschaffen? Es sei daran erinnert, dass das „Vgl.“ in der naturwissenschaftlichen numerischen Zitierweise so gut wie nirgends vorkommt, weil diese kein sinngemäßes Zitat kennt, sondern nur Quellenangaben. Auch die Psychologie lehnt das „Vgl.“ ab.

Andere wiederum wie Manuel Theisen sagen: Das „Vgl.“ ist wichtig, weil es das wörtliche vom sinngemäßen Zitat auch in der Quellenangabe unterscheidet.

Wenn man schon das „Vgl.“ nicht eliminieren will, wäre ein zumindest radikal sparsamerer Umgang wohl zu empfehlen.

7 Kommentare zu “Soll das „Vgl.“ abgeschafft werden? („GWP-History“, Teil 4)

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  1. Interessierter Leser

    Zum vgl. in der numerischen Zitierweise in den Naturwissenschaften würde ich anfügen: Wir haben etwa „see also […]“ oder „see e.g. […]“ sowie auch „see […] and references therein“ . Aber diese Dinge kommen tatsächlich verhältnismäßig selten vor.

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  2. Ralf Rath

    Zumindest für meine eigene Person lässt sich sagen, dass mir die Verwendung des „Vgl.“ nicht dadurch zu verleiden ist, indem daraus auf etwaige Eigenschaften vor mir als Mensch geschlossen wird. Allein schon die durch nichts begründete Behauptung, es handele sich angeblich um Wichtigtuerei, das „Vgl.“ voranzustellen, führt insbesondere die „humane Normalität“ (Spaemann, 2001: 9) geradewegs ad absurdum. Auch der insofern völlig kurzschlüssige Vorwurf, der Verwender des „Vgl.“ weise sich selbst vor aller Augen als unlauter aus, zeugt dann doch eher von einer schieren Verstiegenheit und nicht einmal im Ansatz von einer jemals ernst zu nehmenden Auseinandersetzung. Ohnehin bleibt es wegen der von Natur aus gegebenen Sperrigkeit der empirisch stets vollständigen Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen, das jeweilige Ich positiv zu bestimmen (vgl. Planck, 1949: 163, 5. Aufl.). Dass sich hier im Blog dennoch welche dazu anschicken, leistet lediglich der Pseudowissenschaft den ihr noch nie gebührenden Vorschub.

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  3. Ope Legis

    Grundsätzlich einverstanden mit diesen Überlegungen. Vgl. am Absatzende kann in Ordnung gehen, wenn klar wird, auf was sich das „vgl.“ bezieht.
    Vorschlag:
    „Vgl. zum Vorstehenden…“
    „Vgl. zu den Überlegungen in diesem Absatz…“
    „Vgl. zu diesem Ansatz….“

    Das „Vgl.“ darf eben nicht zu einem „Bauernopfer“ führen.

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  4. Ernst Schwadisch sen.

    Obwohl ich Theisen und Seidenspinner in meinen Kommentaren zu Ihrem letzten Blogbeitrag kritisiert habe, muss ich – nach Durchlesen Ihres Telepolis-Artikels von 2006 – jetzt sagen, dass die beiden es nicht nur gut gemeint hatten, sondern (verglichen zu der Phase 2000 bis heute) als absolut redlich zu gelten haben. Wissenschaftspragmatisch bleibt es selbstverständlich weiterhin absurd, überhaupt einen Kult um „sinngemäße“ Zitate zu betreiben und dafür sogar noch ein institutionalisiertes Ritual zu erschaffen. Immerhin wollten beide aber damals noch das „Vgl.“ nur in der Fußnote und nicht im Fließtext sehen.
    Dass es inflationär mittlerweile im Fließtext angekommen ist, stellt strenggenommen einen Bruch zu Seidenspinner und Theisen dar. Wer hat dafür eigentlich die Schleusen geöffnet? Wer hat den Studenten erlaubt, „Vgl.“ im Fließtext zum Zwecke des Zitierens (und nicht zu Verweis-Zwecken) zu gebrauchen? Habe ich etwas übersehen?
    In welchen Anleitungen zum wissenschaftlichen Arbeiten wird diese Praxis empfohlen und legitimiert?
    „Vgl.“ ist schön bequem. Man kann sich voll bedienen. Schreiben, was man irgendwo gelesen hat und gut klingt — bzw.: …was die „Künstliche Intelligenz“ für einen so alles herausgefunden hat.
    Man muss „Vgl.“ im Fließtext delegitimieren. Wenn es nirgendwo gestattet wird, dann gilt es strenggenommen im Fließtext (mit Ausnahme des reinen internen Verweises oder externen Hinweises) als „nicht erlaubt“ und müsste zu einem Punktabzug führen.
    Ich nenne hier noch einen Grund, warum „Vgl.“ so beliebt ist: Es ist nicht nur bequem, sondern es überbrückt und verschleiert, dass die heutige Studentengeneration (und diejenigen davor, seit ca. 2 Jahrzehnten) zu einem sehr großen Prozentsatz gar nicht wissen, wie man richtig zitiert. Szenario: Wo kommt das Komma am Ende eines Anführungszitats hin, wenn das Zitat in einem „eigenen“ (smile) Satz eingebaut ist, der nach dem Zitat noch weitergeht? Wo kommt der Punkt am Ende eines Zitats hin? Vor dem abschließenden Anführungszeichen oder dahinter? Beides geht ja; hat aber unterschiedliche Bedeutung. Ich schätze, dass mindestens ein Drittel der heutigen Studenten das alles nicht wissen. Zumindest haben sie sehr wenig Routine und müssen jedes Mal neu überlegen. Um es dann doch falsch zu machen. Also, dann besser gar nicht…
    Als drittes Beispiel: Man muss ein eingebautes Zitat aus sprachlichen Gründen bezüglich des Satzbaus umstellen. Sowie: Man muss ein – im Originalzitat – fehlendes oder falschgeschriebenes Wort ergänzen bzw. korrigieren… — Die meisten heutigen Studenten wissen doch gar nicht, dass es dafür eine Vorgehensweise gibt, wie man so etwas kenntlich macht. Für alle diese „Hürden“ ist das „Vgl.“ wie geschaffen: Geklautes, aneinander Gereihtes, ein bißchen Eigenes, Gemischtes, Behauptetes und Bezugloses kommen zusammen, stellen einen Scheinbezug her – und mit dem „Vgl.“ am Ende des Abschnitts hat man sich immunisiert gegen denkbare Vorwürfe des Plagiats oder die eines Verstoßes gegen die Zitierregeln.

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    1. Stefan Weber Beitragsautor

      Großartiger Kommentar, meine Bemerkungen inline:

      „Obwohl ich Theisen und Seidenspinner in meinen Kommentaren zu Ihrem letzten Blogbeitrag kritisiert habe, muss ich – nach Durchlesen Ihres Telepolis-Artikels von 2006 – jetzt sagen, dass die beiden es nicht nur gut gemeint hatten, sondern (verglichen zu der Phase 2000 bis heute) als absolut redlich zu gelten haben. Wissenschaftspragmatisch bleibt es selbstverständlich weiterhin absurd, überhaupt einen Kult um „sinngemäße“ Zitate zu betreiben und dafür sogar noch ein institutionalisiertes Ritual zu erschaffen.“

      Das „sinngemäße Zitat“ ist, soweit ich es bislang erforschen konnte, definitiv eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Das Problem liegt noch tiefer: Während die Mehrheit der Lehrbücher fordert, dass „sinngemäße Zitate“ per se Wiedergaben oder Zusammenfassungen einer Quelle in eigenen Worten sein müssen, erlaubt eine Minderheit das „Anlehnen“, „Umschreiben“ oder „Paraphrasieren“. Ich denke, dass da das wahre Problem beginnt. Beispiele werde ich für einen weiteren Blogbeitrag raussuchen. In einem Lehrbuch hatte ich einmal Umstellungen von wenigen Wörtern eines ansonsten fast identischen Satzes gefunden, und das ging als „sinngemäßes Zitat“ durch.

      „Immerhin wollten beide aber damals noch das „Vgl.“ nur in der Fußnote und nicht im Fließtext sehen. Dass es inflationär mittlerweile im Fließtext angekommen ist, stellt strenggenommen einen Bruch zu Seidenspinner und Theisen dar. Wer hat dafür eigentlich die Schleusen geöffnet? Wer hat den Studenten erlaubt, „Vgl.“ im Fließtext zum Zwecke des Zitierens (und nicht zu Verweis-Zwecken) zu gebrauchen? Habe ich etwas übersehen?“

      Das ist eine ausgezeichnete und wichtige Frage. Wer legitimierte wann und warum die „Migration“ des „Vgl.“ von der Fußnote in den Fließtext? Das ist noch unbeantwortet. Vielleicht finden wir gemeinsam was raus. Ich denke, dass es in den späten 1980ern geschehen sein muss. Denn noch 1984 bei Theisen war das „Vgl.“ nur in der Fußnote verortet.

      „In welchen Anleitungen zum wissenschaftlichen Arbeiten wird diese Praxis empfohlen und legitimiert?“

      Muss ich raussuchen.

      „„Vgl.“ ist schön bequem. Man kann sich voll bedienen. Schreiben, was man irgendwo gelesen hat und gut klingt — bzw.: …was die „Künstliche Intelligenz“ für einen so alles herausgefunden hat.
      Man muss „Vgl.“ im Fließtext delegitimieren. Wenn es nirgendwo gestattet wird, dann gilt es strenggenommen im Fließtext (mit Ausnahme des reinen internen Verweises oder externen Hinweises) als „nicht erlaubt“ und müsste zu einem Punktabzug führen.“

      Sehr schöne Forderung, die „Delegitimierung des Vgl.“! Unsere tollen Hochschulpolitiker und Rektoren erkennen sicher das Problem! 😉

      „Ich nenne hier noch einen Grund, warum „Vgl.“ so beliebt ist: Es ist nicht nur bequem, sondern es überbrückt und verschleiert, dass die heutige Studentengeneration (und diejenigen davor, seit ca. 2 Jahrzehnten) zu einem sehr großen Prozentsatz gar nicht wissen, wie man richtig zitiert.“

      Als ich 2002 mein allererstes Rundmail in der Causa verschickte: „Die Studenten können nicht mehr zitieren.“, stempelte mich die Universität Klagenfurt als Verrückten ab.

      „Szenario: Wo kommt das Komma am Ende eines Anführungszitats hin, wenn das Zitat in einem „eigenen“ (smile) Satz eingebaut ist, der nach dem Zitat noch weitergeht? Wo kommt der Punkt am Ende eines Zitats hin? Vor dem abschließenden Anführungszeichen oder dahinter? Beides geht ja; hat aber unterschiedliche Bedeutung. Ich schätze, dass mindestens ein Drittel der heutigen Studenten das alles nicht wissen. Zumindest haben sie sehr wenig Routine und müssen jedes Mal neu überlegen. Um es dann doch falsch zu machen. Also, dann besser gar nicht…“

      Zu solchen Interpunktionsfragen finden sich sogar schon Regeln bei Fonck 1916!

      „Als drittes Beispiel: Man muss ein eingebautes Zitat aus sprachlichen Gründen bezüglich des Satzbaus umstellen. Sowie: Man muss ein – im Originalzitat – fehlendes oder falschgeschriebenes Wort ergänzen bzw. korrigieren… — Die meisten heutigen Studenten wissen doch gar nicht, dass es dafür eine Vorgehensweise gibt, wie man so etwas kenntlich macht. Für alle diese „Hürden“ ist das „Vgl.“ wie geschaffen: Geklautes, aneinander Gereihtes, ein bißchen Eigenes, Gemischtes, Behauptetes und Bezugloses kommen zusammen, stellen einen Scheinbezug her – und mit dem „Vgl.“ am Ende des Abschnitts hat man sich immunisiert gegen denkbare Vorwürfe des Plagiats oder die eines Verstoßes gegen die Zitierregeln.“

      Ich sehe schon, wir brauchen ganz dringend eine Culturomics/Ngram-Analyse des „Vgl.“. Wer fühlt sich berufen?

    2. Stefan Weber Beitragsautor

      Ach ja, Sie haben ein weiteres ganz wichtiges Thema angesprochen: „…mit dem „Vgl.“ am Ende des Abschnitts hat man sich immunisiert gegen denkbare Vorwürfe des Plagiats.“

      Das „Vgl.“ nur am Ende eines Absatzes ist ein weiteres Riesenproblem. Man sieht es immer öfter sogar in Dissertationen. Für den Leser ist dann aber nie klar, worauf sich das „sinngemäße Zitat“ bezieht: auf den letzten Satz des Absatzes oder den ganzen Absatz? Und wie nah sind die Formulierungen am Original?

      Ich erinnere mich an einen Vortrag an einer TU, als ein Professor sagte: „Das Vgl. am Absatzende, das geht ja eigentlich auch gar nicht.“ Weit offene Augen der Studierenden, die glaubten, das sei lege artis…

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