Coronavirus: Vom Wissenschafts- zum Politikversagen? Ein Kommentar

Natürlich. Nachher sind wir immer klüger. „Hätt i, tät i, war i“ heißt ein Spruch in Österreich. Aber folgendes will mir nicht einleuchten: Unsere Wetterprognosen sind einigermaßen zuverlässig. Sogar die Entwicklung von Erdbeben können wir bis zu einem gewissen Grad vorhersagen. Wir haben Computersimulationen und theoretische Modelle wie die Chaostheorie, wir haben Predictive Analytics, wir haben Machine Learning und (zumindest Schwache) Künstliche Intelligenz. Ja, wir haben sogar „Bio Data Science“: Big Data Mining für biologische Prozesse sozusagen.

Wir haben Predictive Analytics, wir haben Präzedenzfälle

Selbstverständlich gilt: Wir können die (Reise-)Bewegungen von Menschen mit einem an ihren Körperzellen haftenden, ca. 100 Nanometer großen Virus nicht prognostizieren. Wir wissen wenig über das neue Virus. Panik und ‚Alarmismus‘ könnten auch nach hinten losgehen. Und es heißt: Biologische Prozesse verlaufen im Gegensatz zu (makro-)physikalischen nicht deterministisch. Aber: Wenn dem nur so wäre, wo kommen dann jetzt die ganzen Prognosen her? Wussten wir vorher nichts von einem „exponentiellen Verlauf“ der Ansteckungen? War das alles gar nicht vorhersehbar? Wir haben Präzedenzfälle wie die SARS-Pandemie 2002. Ein schöner Satz aus dem entsprechenden Wikipedia-Eintrag (abgerufen am 14.03.2020 um 17:30 Uhr):

„Als erste Pandemie des 21. Jahrhunderts weckte sie neue Ängste in der Bevölkerung und wurde weltweit in großem Rahmen von den Medien begleitet. Ihr erlagen außerhalb Asiens 45 Menschen und sie ist ein warnendes Beispiel für die rasche Ausbreitung einer Krankheit in der vernetzten, globalisierten Welt.“

Virale Verbreitungsszenarien versus Medien-Frame

18 Jahre später lesen sich solche Zahlen vergleichsweise „harmlos“. Noch vor vier Wochen waren ich und meine Familie entspannt in Südtirol Skifahren, und das Coronavirus erschien als Ereignis im fernen China, in einer uns fremden Kultur, in der Hunde und Fledermäuse auf Märkten live geschlachtet werden. Zumindest war das das bestimmende Medien-Frame. Aber um vorherzusehen, dass es ganz anders kommen könnte oder wird, dafür sollte es doch FachwissenschaftlerInnen und deren Analysen der Präzedenzfälle geben. Dafür gäbe es ExpertInnen, die wissen müssten, dass ein Medien-Frame nicht das aussagt, was uns möglicherweise bevorsteht.

Eine der Hauptaufgaben der Wissenschaft ist neben der Erklärung von Phänomen die Prognose von Phänomenen. Und hätte es einen unmissverständlichen Standpunkt der Wissenschaft mitsamt Szenarien/Hochrechnungen mit Schwankungsbreiten gegeben, hätte die Politik vielleicht früher handeln können oder müssen. Gab es diese Stimmen nicht, oder wurden sie nicht oder zu spät gehört? Und welche Rolle spielte die angebliche Desinformationspolitik Chinas dabei? Macht man es sich zu leicht, wenn man sich nur darauf hinausredet?

Abb. 1.: Spät, aber doch: Eine Hochrechnung für Österreich, die ohne Social Distancing einen Peak von zwei Millionen Infizierten im Mai vorhersagt. Quelle: © APA auf Basis von TU Wien/dwh

Keine einheitliche Linie, weder weltweit noch in der EU noch in Deutschland

Warum kein sofortiges Flugverbot nach und aus China, schon im Januar? Keine Einstellung des öffentlichen Verkehrs und Pkw-Verkehrs nach und aus China? Was China nicht will, hätten andere Länder erledigen können. Warum kein sofortiges Ein- und Ausreiseverbot aus der EU? Wo war überhaupt die konzertierte Aktion der EU? Warum das lange Schweigen und das Hinauszögern der Maßnahmen in Deutschland? Warum das wochenlange Gerede von einer bloß „mäßigen“ Gefahr durch das Robert-Koch-Institut? Warum das viel zu lange Zögern der WHO, COVID-19 zur Pandemie zu erklären? Zum jetzigen Zeitpunkt soll mein Sohn in Sachsen ab Montag nicht mehr in die Schule gehen. Der Direktor bittet eindringlich darum per Rundmail. Aber es gibt immer noch keine offizielle Schulschließung, auf die er sich berufen könnte!

Wenn man sich die historische Liste der weltweiten Pandemien ansieht, besteht kein Zweifel mehr daran, dass Sars-CoV-2 als eine der großen dunklen Ereignisse in die Geschichte der Menschheit eingehen wird, mit abertausenden Toten und Problemen, die uns sehr wahrscheinlich noch lange beschäftigen werden. Wenn die im „Spiegel“-Artikel zitierten Studien schon vorlagen, warum führten sie nicht zu sofortiger Prävention und sofortigem Handeln?

Die Frage ist: Hätte die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts ihren Mund schneller aufmachen müssen, und hätte die Politik schneller und vor allem konzertierter handeln müssen? Wäre die jetzige Situation durch schlaue Zukunftsforschung und eine vorausschauende Politik, vor allem auch durch einen direkten Draht zwischen Wissenschaft und Politik, vielleicht auch durch schnellere Publikationspraxen der Wissenschaft vermeidbar gewesen?

Diese Fragen stellt hier beileibe kein Wissenschaftsskeptiker oder gar Verschwörungstheoretiker. Diese Fragen an die Biologie, im Speziellen an die Virologie müssen erlaubt sein. Auch von einem Sozialwissenschaftler.

Dieser Kommentar wurde vom Online-Magazin „Telepolis“, für das ich seit dem Jahr 2000 gerne aktuelle Ereignisse kritisch kommentiere, abgelehnt. Ich habe in der Buchreihe „Telepolis“ auch zwei Bücher publiziert. Es handelt sich um den ersten bei „Telepolis“ abgelehnten Text von mir.

Der Kommentar erschien in erweiterter Fassung am 18.03.2020 in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ in der Print- und Onlineausgabe.

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