Die Autorin millionenfach verkaufter Bücher, „Deutschlands Psychologin Nr. 1“ Stefanie Stahl beglückte ihre Leser in ihrem jüngsten Bestseller „Wer wir sind“ (2022) nicht nur mit ganz viel Psychologie, sondern auch mit einer Prise Philosophie. Auf S. 32 meines neuen Lieblingsbuchs von Dipl. Psych. Stahl ist etwa zu lesen:
Hat das Kant tatsächlich irgendwo so geschrieben? „Alles Wissen über die Welt“ entstehe „aus einer trügerischen Sinneswahrnehmung der Menschen“? Klingt eher nach Platons Höhlengleichnis oder nach den griechischen Skeptikern. Vielleicht wollte man auf Kants Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen Bezug nehmen, aber da gab es doch auch bei Kant die Unterdifferenzierung in synthetische Urteile a priori und synthetische Urteile auf Basis unserer Erfahrungen. In der Kant-Suchmaschine findet sich auch keine Stelle zu einer „trügerischen Sinneswahrnehmung“.
Dagegen findet sich derselbe Satz hier, wenn man aus zwei Sätzen einen macht:
Das Beispiel illustriert perfekt das Problem des Plagiats: Dass „alles Wissen über die Welt aus einer trügerischen Sinneswahrnehmung der Menschen entsteht“, das schreibt der Deutschlandfunk-Autor nicht Kant, sondern der Philosophie insgesamt zu! Und auch das stimmt so nicht, weil es die Philosophie auf die Strömung des Empirie-Skeptizismus reduziert. Hingegen behaupten zahllose Realisten, dass wir mit unseren Sinnen die Welt im Wesentlichen so erkennen können, wie sie ist. Und wenn schon die Sinneswahrnehmung trügerisch wäre, dann wären es zumindest nicht die wissenschaftlichen Apparaturen, die mathematischen Gleichungen und die physikalischen Modelle.
Im Plagiat bei Stefanie Stahl wird das plötzlich zur Erkenntnis Kants, zu der er im 18. Jahrhundert gelangte.
Es ist nur ein Satz. Aber er zeigt auf, was passiert, wenn die bisherigen kulturellen Standards korrekter Quellenarbeit zu Grabe getragen und durch zusammengegoogelte Bücher ersetzt werden: Wir landen in der von mir oft zitierten Textkultur ohne Hirn.
Bald werden wir in einer Seminarbeit lesen: Kant hielt die menschliche Sinneswahrnehmung für trügerisch (vgl. Stahl 2022, S. 32).
Von Psychologinnen und Psychologen haben „82% schwere persönliche Probleme“, schreibt die Professorin Eva Jaeggi? Na dann passt das ja:
Der Tageszeitung „Trierischer Volksfreund“
https://www.volksfreund.de/region/rheinland-pfalz/plagiatsvorwurf-trierer-bestseller-autorin-stefanie-stahl-aeussert-sich-hat-sie-abgeschrieben_aid-97575339
gestand Stefanie Stahl:
„Ich hatte Tagträume, dass ich im Audimax stehe und dort sitzen alle Professorinnen und Professoren, und ich nehme ihre Absätze auseinander und erkläre ihnen, wie man vernünftiges Deutsch schreibt.“
Auf welche Störung die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und das gesteigerte Verlangen nach Anerkennung wohl hindeutet? Es ist die inspirative Zitierstörung.
Zu solchen Psychologinnen und Psychologen als Selbstdarsteller fällt mir nur die Warnung aus Matthäus 15,14 ein: „Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer! Wenn aber ein Blinder den andern führt, so fallen sie beide in die Grube.“
Kaum jemand kennt die Untersuchungsergebnisse, die Eva Jaeggi, Professorin für Klinische Psychologie der Technischen Universität Berlin von 1978 bis 2000, in der Zeitschrift Psychotherapie (https://psychotherapie.de) unter dem Titel „Die Angst des Therapeuten vor sich selbst“ veröffentlichte:
„Psychische Krankheiten bei Therapeuten sind zahlreich. Die Zahlen variieren, sind aber insgesamt recht deprimierend: 73% Angsterkrankungen, 58% Depressionen, 82% schwere persönliche Probleme, 11% Süchtige, die Suizidrate wird höher geschätzt als beim Durchschnitt.“
Da entsteht zwingend die Frage, welche Hilfe von Psychotherapeuten zu erwarten ist, die Störungen bei sich selbst nicht zu beseitigen vermögen, die zu therapieren sie beanspruchen, die ihre Bücher nicht selber schreiben können und die den Leuten überdies Erklärungen herbeifantasieren, die nichts mit der Realität zu tun haben?
Interessanterweise empfiehlt die Zeitschrift Psychotherapie (https://psychotherapie.de/#gesundheitspolitik), „alle psychotherapeutischen Behandlungsformen vollständig aus der Leistungspflicht der Krankenversicherungen zu entfernen“.
Unabhängig voneinander veröffentlichten zwei Zeitungen in der jüngeren Vergangenheit eine angeblich von Walter Jens stammende Aussage. Die eine Zeitung druckte das Zitat am 6. April 2016 und die andere Zeitung nahm wortgleich am 23.12.2016 auf ihn Bezug. Weder im Inge-und-Walter-Jens-Archiv an der Berliner Akademie der Künste noch im Universitätsarchiv Tübingen ist das Zitat jedoch verzeichnet. Wenn es in dem Zitat nicht um die Frage gehen würde, wie die seit langen Jahrzehnten anhaltend tiefe Krise der Natur- und Technikwissenschaften zu gewärtigen ist, die allen voran Max Planck einst zu einem „Akt der Verzweiflung“ zwang, wie der österreichische Nobelpreisträger Anton Zeilinger anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele vor wenigen Wochen zu bedenken gab, wäre die fehlende Angabe der Quelle ohne jeden Belang. Insofern aber dadurch die unbedingten Anforderungen ihrer Grundlegung angesprochen sind, ist es von höchstem Interesse zu erfahren, welchen Ursprung das Zitat hat. Auf meine Bitte hin, wenigstens den sozialen und historischen Kontext des Zitats offenzulegen, reagierte der stellvertretende Chefredakteur der einen Zeitung sogar überaus unwirsch und machte mir Vorwürfe. Die andere Zeitung lässt mein Ersuchen, mir die tatsächliche Quelle zu nennen, bis dato einfach unbeantwortet und schweigt dazu fortgesetzt.
In Deutschland gibt es kein Lehramt Philosophie wie in Österreich, eines der vielen Defizite im Bildungssystem. Eine Ausbildung im Bereich Philosophie kann das Leben leichter machen und unnütze Bücher werden leichter entsorgt. Vor 30 Jahren gab es noch qualitativ gute Esoterik im Buchladen. Das Angebot von heute kann sich nicht daran messen.
„O wie so Trügerisch“ als mögliche Quelle?