Das „Nicht-objektierende“ Denken und die neue Notation /…/ von Josef Mitterer

1. Kategoriale binäre Unterscheidungen, also Dualismen, präg(t)en vor allem unser philosophisches Denken: Götter und Menschen, Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits, Leben nach dem Tod und Leben vor dem Tod, Seele und Leib, Geist und Materie, res cogitans und res extensa, Denken und Sein, Subjekt und Objekt, Kultur und Natur, Interpretationen und Fakten, Meinungen und Tatsachen, Werturteile und Tatsachenbehauptungen, Falschheit und Wahrheit, Überbau und Basis, These und Antithese, und in der Politik und in den Medien – sich derzeit (im Jahr 2025) zunehmend polarisierend – Links und Rechts.

2. Man könnte mit Naturerscheinungen argumentieren, die dualistisches Denken plausibilisieren: Mann und Frau, Tag und Nacht. Der Dualismus könnte also naturalistisch begründet werden. Aber andere Naturerscheinungen plausibilisieren eher zyklisches Denken, etwa der Lauf der Jahreszeiten oder die Bewegungen der Planeten. Und die soeben verwendete Unterscheidung zwischen Naturerscheinungen und unserem Denken ist nichts anderes als ein weiterer Dualismus.

3. Viele Dualismen des Denkens wurden im Laufe der Philosophiegeschichte problematisiert, wenn nicht dekonstruiert: So sind etwa die Dualismen von Göttern und Menschen, Himmel und Erde oder Jenseits und Diesseits aus der Philosophie verschwunden, auch von einer „Seele“ wird im wissenschaftlichen Zusammenhang nicht mehr gesprochen.

4. In großen Denksystemen der neuzeitlichen Philosophie wurde mitunter der Versuch unternommen, Dualismen in einer Synthese aufzuheben (in der Dialektik Hegels) oder etwa einen alten Dualismus durch einen neuen, flexibleren zu ersetzen, wie etwa die Unterscheidung von System/Umwelt (in der Systemtheorie Luhmanns). Manche Dualismen benötigen ein drittes Glied, ein Medium der Unterscheidung – wie die Welt bei Luhmann. Popper hat explizit eine Drei-Welten-Theorie vertreten (Materie, Geist und Kultur). Es wurden auch neue Glieder von Dualismen eingeführt, wie etwa das „Ding an sich“ durch Kant.

5. Gehalten hat sich jedoch in allen philosophischen Theoriegebäuden seit ca. 2.500 Jahren die Voraussetzung einer Unterscheidung von Namen und Dingen (Platon), Begriff und Anschauung (Kant), Begriff und Gegenstand (Frege), Zeichen und Bezeichnetem (de Saussure), Sprache und Wirklichkeit (Wittgenstein) oder Wort und Objekt (Quine, Foucault) als conditio sine qua non des Denkens (nach Josef Mitterer). Es gibt angeblich die Sprache und die von der Sprache kategorial zu unterscheidende, also nicht-sprachliche Wirklichkeit, wobei die Sprache der Wirklichkeit „gegenüber stehen“ oder aber die Sprache auch als Teil der Wirklichkeit verstanden werden kann. Am häufigsten wird Sprache aber als irgendetwas Ideelles gedacht, das der materiellen Wirklichkeit in irgendeiner Form analytisch bzw. kategorial gegenübersteht.

6. Ich sage nicht, dass dieser sprachphilosophische Dualismus falsch wäre. Ich werde im Folgenden aber mit Josef Mitterer argumentieren, dass er optional ist, also nicht notwendig, weil bislang niemand daran gedacht hat, dass es auch eine andere Redeweise – und mit ihr eine andere Notation – geben könnte.

7. Schon in Platons „Kratylos“, in dem die Unterscheidung von Namen und Dingen stillschweigend eingeführt und im Fortgang des Dialogs vorausgesetzt wird, sind sich die Gesprächspartner der Schwierigkeiten durchaus bewusst, die aus den Folgeproblemen dieser nicht-problematisierten Unterscheidung resultieren: Wenn uns Namen (bei Platon: ὀνόματα, onomata) etwas über die „Natur“ oder das „Wesen“ der Dinge (bei Platon: πράγματα, prágmata oder ὄντα, onta) erzählen, haben dann nicht auch Handlungen – wie etwa auch Sprachhandlungen – eine Natur, ein Wesen? Aber wenn es nun eine natürliche Richtigkeit der Namen gäbe, wie weit lässt sich diese zurückführen und wie sehr in die kleinsten Wortbestandteile, nur zu einer Silbe oder zu einem Buchstaben, hinein? Die Antwort von Sokrates ist hier ausweichend: Die etymologische Rückschau führe vielleicht zurück in sehr alte und nicht mehr zugängliche Sprachen, in ausländische Sprachen oder zu Gott als initialen „Namensgeber“ der „Stammwörter“: Wir treffen auf einen frühen Regressunterbrecher durch ein Dogma, wie es im 20. Jahrhundert Hans Albert formuliert hätte.

8. Die Unterscheidung von Namen und Dingen taucht zur „Achsenzeit“ der Menschheitsgeschichte (Jaspers), also ca. im 5. bis 4. Jhdt. v. Chr. auch in der indischen und chinesischen Philosophie auf: und zwar in Indien bei Yāska (im „Nirukta“) und in China bei Mozi (im „Mohistischen Kanon“) – in China übrigens stärker expliziert als in Indien, Indien ist also schon damals etwas „non-dualistischer“ gewesen.

Das Beispiel:

Der Apfel liegt auf dem Tisch, ist angebissen und faul.

Das Objekt dieser Beschreibung kann nun sein, je nach Stand des Konsenses: Der Apfel oder der Apfel, der auf dem Tisch liegt oder der Apfel, der auf dem Tisch liegt und angebissen ist oder der Apfel, der auf dem Tisch liegt und angebissen und faul ist.

12. Ich kann selbstverständlich weiterhin zwischen dem Apfel und „dem Apfel“ unterscheiden. Um das zu tun, muss ich ja /dem Apfel/ im Satz soeben vor (oder wahlweise auch nach) „dem Apfel“ gesagt haben.

13. Alle etymologischen Erörterungen, wie sie die Gesprächspartner im „Kratylos“ angestellt haben, sind weiter möglich: Der Apfel liegt auf dem Tisch, aber „der Apfel“ liegt nicht auf dem Tisch. „Der Apfel“ besteht aus zwei Wörtern, aber der Apfel besteht nicht aus zwei Wörten. In beiden Sätzen soeben wurde nicht nur „der Apfel“ in doppelte Anführungszeichen gesetzt, es wurde ja auch beide Male /der Apfel/ gesagt.

14. Die vielen unbenannten Phänomene sind die mit „viele unbenannte Phänomene“ benannten Phänomene. Etwas als unbenannt (hier soeben: etwas) zu benennen, ergibt somit keinen Sinn. Die Welt und das Benannte fallen zusammen, hier eben die Welt und das Benannte.

15. Die Notation /…/ meint, dass der Apfel, der auf dem Tisch liegt, und /der Apfel, der auf dem Tisch liegt/, dasselbe sind.

16. Wenn ich den grünen Apfel blau nenne, wird er dann blau? – Nein, ich bin ja in diesem Beispiel mein eigener advocatus diaboli: Ich weiß, dass es anders ist, als ich es sage. Ich habe ja bereits gesagt, dass der Apfel grün ist.

17. Verlieren wir damit die Welt im Sinne einer dramatischen Zuspitzung von Rortys „The Word Well Lost“? – Nein. Die Welt ist nur nicht alles, was der Fall ist, wie dies noch Wittgenstein geschrieben hat. Die Welt ist mit Mitterer das, was gesagt wurde.

18. Damit ergeben sich fundamentale Konsequenzen für Fragen nach dem „Anfang“ des Universums und der Rekonstruktion der Vergangenheit(en).

Literatur

Mitterer, Josef (2011): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Auszug hier.

Weber, Stefan (2025a): Sprache, Mensch, Universum. Radikaler Lingualismus 2. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Auszug hier.

Weber, Stefan (2025b): Die unhinterfragte Denkvoraussetzung Name vs. Ding in Platons „Kratylos“. Weilerswist: Velbrück Magazin, https://velbrueck-magazin.de/2025/09/29/die-unhinterfragte-denkvoraussetzung-von-namen-und-dingen-in-platons-kratylos

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