Zur Verjährungsdebatte: Überlegungen zu „Autonomie“ und „Reputation“ der Wissenschaft

„Grundlage aller Überlegungen der Unterzeichner ist die Wahrung und Förderung wissenschaftlicher Autonomie“, heißt es in dem gestern hier im Blog diskutierten brisanten Positionspapier (S. 2). Und weiter: „Wissenschaftsautonomie ist der Gestaltungsmacht staatlicher Akteure entzogen. Selbst der Missbrauch von Freiheit vermag ihre Abschaffung nicht zu rechtfertigen.“ (S. 3)

Was heißt das eigentlich? Die meisten Universitäten sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Das heißt, sie verdankten „ihre Rechtssubjektivität nicht der Privatautonomie, sondern einem Hoheitsakt“ (ich zitiere hier verpönterweise Wikipedia). Was bedeutet nun aber diese Wissenschaftsautonomie, die außerhalb jeder Diskussion stehe? Viele Professoren, wahrscheinlich auch die meisten Unterzeichner des Positionspapiers, sind Beamte auf Lebenszeit. Damit sind sie aber per definitionem gerade nicht autonom (im Sinne von willensfrei bis willkürlich in ihren Entscheidungen), sondern an die Grundwerte der Demokratie und an die Grundlagen des Rechtsstaates gebunden. Für die Bewahrung und Verteidigung dieser Werte genießen sie (im idealtypischen Modell) Privilegien. Doch offenbar werden diese Werte nicht zu selten alles andere als verteidigt, sondern eher beliebig mit den Füßen getreten.

Immer mehr Wissenschaftler stehen unter dem Einfluss der Ökonomie und sehen sich offenbar dem Diktat quantitativer Kennzahlen ausgesetzt. Bei Besetzungen von Professorenstellen spielen politische Parteien und gesellschaftliche Vernetzungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Lehrpläne werden zunehmend reglementiert und verschult, es gibt immer weniger Freiheitsgrade in der Lehre. Was heißt hier eigentlich noch „Autonomie“? Könnte es nicht sein, dass der Begriff mittlerweile zum Feigenblatt verkommen ist und immer dann verwendet wird, wenn berechtigte Kritik und der Wunsch nach Einmischung von außen an das Wissenschaftssystem herangetragen werden?

Ich denke ernstlich, es ist an der Zeit, mit dem Tabu dieser falsch verstandenen Autonomie der Wissenschaft zu brechen, um nämlich zu sehen, dass die Wissenschaft längst nicht mehr autonom ist und sie es vielleicht nie war.

„Wissenschaftsautonomie“ als Freiheit der Forschung und Lehre, im Sinne von: man darf sagen, was man will, wir leben nicht in der Diktatur? Nun, das ist aber eine ganz andere Baustelle, die mit der Debatte um Plagiate wenig zu tun hat. Und das Grundrecht auf Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre könnten im Übrigen auch jene für sich reklamieren, die besser qualifiziert sind, aber in Berufungsverfahren hinter Plagiatoren gereiht wurden. Aber daran denkt im System natürlich niemand.

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Gleich dreimal kommt in dem Positionspapier der Begriff der „Reputation“ vor. Die Rede ist von „drohenden Reputationsverlusten“ (S. 4), aber auch von „unberechtigter Reputationszerstörung“ (S. 5). Woher kommt eigentlich diese Sorge um die angeblich besondere „Reputation“ der Wissenschaft? Wer sorgt sich nach aufgedeckten Dopingfällen um die besondere „Reputation“ des Spitzensports, wer sorgt sich nach aufgedeckten Fällen sexuellen Missbrauchs um die besondere „Reputation“ der Kirche? „Reputation/Nicht-Reputation“ ist, um es luhmannianisch zu sagen, allenfalls eine Zweitcodierung in sozialen Systemen. In der Wissenschaft wird sie offenbar primär gesetzt. Man sorgt sich nämlich nicht primär um die Qualität der Wissenschaft (d. h. ihrer Outputs), sondern um die öffentliche Reputation der Wissenschaft. Es sollte aber eigentlich nie um die Reputation der Wissenschaft, sondern um die Wissenschaft gehen.

Ich denke, dass „Autonomie“ und „Reputation“ absichtlich unhinterfragte und vorgeschützte Floskeln sind, mit denen sich das Wissenschaftssystem immer dann inflationär rhetorisch umgibt, wenn positive Veränderungen (wie alle Veränderungen: meist aus der Umwelt angeregt) anstehen würden. Dann heißt es: Unsere Hauptsorge gilt der Wahrung unserer (angeblich besonderen) Reputation und der Verteidigung unserer Autonomie. Damit wird das System veränderungsresistent.

Ich habe nicht die Zeit, mir empirische Studien anzusehen, die sich mit der Autonomie der Universitäten und dem Ruf der Wissenschaftler in der Bevölkerung beschäftigen, würde aber nicht ausschließen, dass sich hier ein ganz anderes Bild ergibt.

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