9-Punkte-Programm zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis – nicht nur in Zeiten der coronabedingten Distanzlehre

Je mehr an den Universitäten mittels Software auf Distanz unterrichtet und geprüft wird, desto intensiver müssen wir Lehrende auch Software einsetzen, die uns dabei unterstützt, Schummelversuche zu entdecken, das heißt die gute wissenschaftliche Praxis zu sichern. (Und das gilt eigentlich auch schon für die Schulen, in wichtiger Ergänzung zum erst diese Woche vorgestellten österreichischen 8-Punkte-Masterplan für digitale Bildung.)

Mein Credo: Keine Digitalisierung der universitären Lehre ohne die Realisierung der folgenden neun Punkte (die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ berichtet in Auszügen über diese Forderungen):

Prävention

1. Verpflichtende Einführungslehrveranstaltungen zu guter wissenschaftlicher Praxis (GWP) sollen in alle Curricula aufgenommen werden. Einen diesbezüglichen Entschließungsantrag haben NEOS vor rund zwei Monaten eingebracht – man kann ihn nur unterstützen! In meiner Vorlesung „Grundlagen der guten wissenschaftlichen Praxis“ an der TU Wien, die auf Initiative des Juristen Markus Haslinger zustande gekommen ist, sitzen RaumplanerInnen neben InformatikerInnen. Wir starten mit den Grundlagen, die für alle gelten, nämlich mit dem Plagiatsbegriff im österreichischen Universitätsgesetz und der urheberrechtlichen Verpflichtung zur Quellenangabe, diskutieren fachspezifische Zitierstile und fachübergreifende ethische Normen. Wir haben etwas Neues gestartet, und es funktioniert, von Semester zu Semester besser. Wäre nicht in allen Studienplänen Platz für zumindest eine Semesterwochenstunde zu diesem so wichtigen und so grundlegenden Thema? Wenn ja, dann sollte man gleich weiter ‚entrümpeln‘ und auch eine Pflichtlehrveranstaltung „Zitieren und der Umgang mit Quellen“ einführen – ein Manko, das allerorts sichtbar ist.

2. Aktualisierte und klarer kommunizierte GWP-Richtlinien. Je prominenter eine Universität ihre Richtlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis auf ihrer Webseite publiziert, desto klarer ist ihr Bekenntnis zu korrekter und ehrlicher Forschung und Lehre nach außen. Im Moment sind viele Richtlinien veraltet – siehe etwa jene der Universität Wien. Sie basieren noch auf Empfehlungen aus dem Jahr 1998 und ursprünglichen Formulierungen des Strafrechtlers Albin Eser für die Max-Planck-Gesellschaft. Doch der Kanon wissenschaftlichen Fehlverhaltens hat sich seitdem verändert – neu hinzugekommene Phänomene wie etwa Ghostwriting (Contract Cheating), Ghostcoding  oder Collusion müssten dringend erfasst werden und würden wahrscheinlich zu einer Gesamtänderung der Taxonomie wissenschaftlichen Fehlverhaltens führen. Und es müsste deutlich gemacht werden, wie mit fragwürdigen Forschungspraktiken umgegangen wird. – GWP-Richtlinien sind zudem auf universitären Webseiten manchmal nahezu perfekt versteckt. Studierende müssen unterschreiben, dass sie deren Inhalt kennen – aber die Dokumente sind so gut wie nicht auffindbar. Auch dieses Problem hat etwa die Universität Wien. Damit aber wird diese grundlegende Sache leider zum Feigenblatt.

3. Bekenntnis zu wissenschaftlicher Redlichkeit ins Universitätsgesetz. Unter den „Leitenden Grundsätzen“ der Universitäten – § 2 UG 2002 – findet man zwar „Gleichstellung“, „Chancengleichheit“ oder die „Vielfalt wissenschaftlicher und künstlerischer Theorien, Methoden und Lehrmeinungen“, aber kein Bekenntnis zu wissenschaftlicher Redlichkeit bzw. zu guter wissenschaftlicher Praxis. Blicken wir zum Vergleich nur in das Hochschulgesetz von Baden-Württemberg: Die Verpflichtung (!) zu wissenschaftlicher Redlichkeit wird hier in einem Atemzug mit der Freiheit der Forschung, der Lehre und des Studiums genannt (§ 3). Im österreichischen UG kommt „gute wissenschaftliche Praxis“ als Term nur ein einziges Mal vor (aber nicht zentral), „wissenschaftliche Redlichkeit“ gar nicht.

Detektion

4. API zwischen LMS und Plagiatssoftware. Die entscheidende technische Voraussetzung für eine flächendeckende Plagiatsprüfung ist die nahtlos funktionierende automatische Schnittstelle zwischen dem verwendeten Learning Management System (wie etwa Moodle) und einer Plagiatsprüfsoftware (wie etwa Turnitin). Man hört es von Universitäten und Fachhochschulen aus Deutschland, man nimmt es an Universitäten und Fachhochschulen in Österreich wahr: Auch im Jahr 2020 ist das bei weitem noch nicht überall realisiert (eine noch unpublizierte Befragung aus Deutschland weist ebenfalls darauf hin). Dabei wäre dies das wichtigste Werkzeug für den Check von wissenschaftlichen Arbeiten, Teilabgaben und schriftlichen Klausuren überhaupt – noch vor der eigentlichen Beurteilung. Ich habe angeregt, einmal eine Befragung zu den Erfahrungswerten an den österreichischen Unis, FHs und PHs mit den verschiedenen Anbietern zu machen und herauszufinden, welche Institutionen hier noch nicht die technischen Voraussetzungen geschaffen haben und warum.

5. Vergleich aller Abgaben einer Lehrveranstaltung oder Klausur auch untereinander. Zur Entdeckung von Collusion (verborgener Zusammenarbeit) ist es wichtig, dass bei zahlreichen Einreichungen diese auch untereinander verglichen werden. Mit den richtigen Einstellungen einer guten Plagiatssoftware (wie etwa Turnitin) ist das möglich, siehe u.a. dazu eine von Markus Haslinger und mir erstellte Handreichung für digitales Prüfen, die auch das BMBWF als Leitfaden für Lehrende veröffentlicht hat.

6. Überprüfung auf Autorschaft. Für die Erkennung von Ghostwriting-Verdachtsfällen gewinnen auch Softwarelösungen zur Autorschaftserkennung an Bedeutung. Es gibt hier wieder die großen Player wie etwa Turnitin mit ihren neuen Lösungsansätzen, aber auch innovative Start-Ups wie etwa TransparencyWise. Da diese Lösungen erst am Anfang stehen und im Moment maximal als Hinweisgeber hilfreich sind, ist hier das A & O der eigene stilometrische Vergleich, etwa mit E-Mail-Korrespondenz.

Sanktion

Detektion und Sanktion wollen nichts Böses. Im Gegenteil: Damit beschützt man die ehrlich Arbeitenden – die, die Zeit und Hirnschmalz investieren. Und ich weiß auch nach jahrelanger Erfahrung, dass Detektion und Sanktionierung eine hervorragende Präventivwirkung haben: Detektion(smöglichkeiten) und Sanktion(smöglichkeiten) wirken auch vorbeugend.

7. Schärfere Sanktionen bei Plagiat. Im Moment sieht das Universitätsgesetz eine Studiensperre von maximal zwei Semestern bei schwerwiegendem und vorsätzlichem Plagiieren vor. Und selbst diese Maßnahme gilt nicht für Seminar- und Prüfungsarbeiten. Österreich ist hier extrem milde: Im nordrhein-westfälischen Hochschulgesetz sind seit Jahren Geldstrafen von bis zu 50.000,– Euro bei Täuschungshandlungen vorgesehen, in Baden-Württenberg droht die Exmatrikulation bei einem Verstoß gegen den Grundsatz der wissenschaftlichen Redlichkeit. In der Schweiz haben mehrere Universitäten bereits Geldstrafen eingeführt. Will man in Österreich hier als konsensorientiertes Land einfach einen Konflikt mit der Hochschülerschaft vermeiden?

8. Ghostwriting als neuer Straftatbestand. Auch hierzu gibt es bereits einen Entschließungsantrag von NEOS, und Minister Faßmann hat eine entsprechende Änderung mit Strafen sowohl für die Auftraggeber als auch für die Auftragnehmer bereits in Aussicht gestellt. Das wird wirklich Zeit, wenn man sich etwa folgendes Angebot ansieht: Der erfolgreiche Studienabschluss wird damit zu einer reinen Geldfrage. Das pervertiert die Idee einkommens- und herkunftsunabhängiger Bildungschancen total.

Quelle: Webseite von Acad Write, 2020

9. Keine Amtsverschwiegenheit bei Verfahren zu Verdachtsfällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Österreich ist die letzte Demokratie Europas, in der die Amtsverschwiegenheit Verfassungsrang hat. Auch Universitätsorgane sind nach § 48 UG zur Amtsverschwiegenheit verpflichtet. Ihre Verfahren richten sich nach dem Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz. Dies führt dazu, dass derzeit weder Hinweisgeber auf Verdachtsfälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens noch die Opfer selbst Parteistellung in einem universitären Verfahren haben. Sie erfahren schlichtweg niemals, ob eine Universität überhaupt jemals aktiv geworden ist. Der Mauschelei und der Packelei sind damit Tür und Tor geöffnet. Der Ausgang einschlägiger Fälle in den vergangenen Jahren wurde nicht immer medial kommuniziert.

Ein womöglich systematisch falscher Anreiz

Eine abschließende Bemerkung: Niemand nimmt es offen in den Mund, aber die Universitäten sehen sich mit einem systematisch falschen Anreiz konfrontiert: Die Anzahl sogenannter „prüfungsaktiver Studierender“ zu erhöhen, um mehr Mittel zu bekommen. Das würde man am leichtesten erreichen, indem man die Prüfungen vereinfacht und jene Fälle, die gegen die gute wissenschaftliche Praxis verstoßen, nicht ahndet… Auch die Wissensbilanzen schielen nur auf die Anzahl der Abschlüsse, Qualität sei ja nicht messbar. Das sollten wir ändern!

PS: Zur Erforschung von Aspekten der guten wissenschaftlichen Praxis und des wissenschaftlichen Fehlverhaltens haben Markus Haslinger und ich unlängst einen Arbeitsschwerpunkt GWP an der TU Wien gegründet. Die Webseite soll als Ressourcenseite weiter entwickelt werden und zentrale Anlaufstelle zur GWP-Thematik in Österreich werden. Forschungsprojekte sind beantragt oder geplant. Siehe dazu auch einen eigenen Blog-Artikel.

PPS: In Österreich werden demnächst neue Richtlinien für wissenschaftliche Integrität veröffentlicht, siehe die Ankündigung hier.

1 Kommentare zu “9-Punkte-Programm zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis – nicht nur in Zeiten der coronabedingten Distanzlehre

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  1. Wolfgang Pöltl

    Endlich kommt Licht ins Dunkel!
    Ich bin 59 Jahre alt und studiere in Graz Rechtswissenschaften. „Studieren“ ist vielleicht das falsche Wort, denn was hier nun seitens der Uni in Graz angeboten wird, sind einfache Fernkurse. Das Vorlesen von Folien über Skype und dergleichen , das ist das neue Lehren an der Uni.

    Und damit die Sache abgerundet wird, werden die Fachprüfungen auch gleich online abgenommen: die Studierenden sitzen gemütlich zuhause oder in Gruppen und schreiben fröhlich und gemeinsam die Fachprüfung. Wen interessiert es.

    Einzige technische Voraussetzung: man muss sich mit seinen Zugangsdaten anmelden. Das kann aber jeder, der die Zugangsdaten hat. Nicht nur der Prüfling. Tolles System.

    Resultat: Covid-19 – AkademikerInnen, die auf leichtestem Weg den Titel des Magisters, der Magistra erhalten. Schummeln verboten? Ja, aber wer kontrolliert das?

    Ich bin wirklich erzürnt, ein seriöses Studium habe ich mir anders vorgestellt. Haupsache Mami und Papi können prahlen, wie intelligent das Söhnchen, das Töchterchen, doch ist.

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