Szenario 1: Das Ende der Menschheit
60 bis 70 Prozent der Bevölkerung (oder noch mehr) vom Coronavirus infiziert; ein Virus, das möglicherweise mutiert (oder bereits mutiert ist) und möglicherweise (eben: oder auch nicht) noch gefährlicher wird; keine Immunität gegen das Virus nach überstandener Erstinfektion; noch unbekannte mögliche Langzeitfolgen einer Infektion; kein Impfstoff in Sicht – dazu brechen weltweit Handelsketten ein, wenn über viele Wochen der Flugverkehr eingestellt wird und die Grenzen geschlossen werden. Die uns drohende mehrwöchige Isolation führt zu sozialen Konflikten und Gewalt. Die Wirtschaft, wie wir sie kennen, der globale Kapitalismus, in dem Chinesen für Billigstlöhne wie Sklaven in Italien arbeiten, ist am Ende. – Das ist das Worst Case-Szenario. Wenn wir das alles überhaupt überleben, wird Hollywood Stoff für viele neue Kassenschlager haben. Doch wird das Coronavirus die Menschheit ausrotten? Wird die Welt untergehen? Offenbar würden (die anderen) Tiere und Pflanzen dann weiterleben. Der Mensch als Zwischenspiel der Geschichte? Beethovens Neunte und Kants Transzendentaler Idealismus – alles für die Katz?
Wenn wir Szenario eins durchdenken, stellen sich alle Sinnfragen des Menschseins radikal neu. Es tut sich ein Abgrund auf. Die Vergänglichkeit als Grund und Abgrund des Denkens, wie der Philosoph Günter Schulte einmal schrieb.
Szenario 2: Das neue Dauerproblem
Sehen wir uns lieber Szenario zwei an: Das Coronavirus als neues Dauerproblem. Aber wie soll das weitergehen? Italien, Österreich, Spanien und nun auch langsam Deutschland machen die Schotten dicht. Andere Länder wie England schließen nicht einmal die Schulen! Und das Virus ist gerade erst in Afrika angekommen. Wie wird es sich womöglich in der Dritten Welt ausbreiten? Zugespitzt gefragt: Was bringt es, wenn ich nun sechs Wochen nicht ins Fitnessstudio gehen darf und wir die Ansteckungen mit unseren derzeitigen Maßnahmen vielleicht national in den Griff bekommen (wie derzeit, wie zu hoffen ist und hoffentlich stimmt, China), wenn in anderen Ländern „Ausgangssperren“ gar nicht durchsetzbar sind oder andere Länder wie England ihren eigenen Kurs fahren? Wenn wir dann etwa im Mai unser altes Leben sukzessive wieder aufbauen, wird es wohl nur Tage bis Wochen dauern, bis das Virus durch den internationalen Flugverkehr erneut eingeschleust wird. Müssen wir uns nun auf den Dauerrhythmus acht Wochen Normalleben und acht Wochen häusliche Isolation einstellen? Das wäre auch keine Lebensqualität mehr auf diesem Planeten.
Quelle: Washington Post
Szenario 3: Die Ausrottung des Virus
Da bin ich für Variante drei: den baldigen Sieg über das Virus. Aber wie wollen wir den Kampf gewinnen? Der „Corona-Simulator“, eine schöne dynamische Visualisierung der „Washington Post“ zeigt uns, wie die Ansteckung randomisiert verläuft. Von einem Meeresfrüchte- und Tiermarkt in Wuhan über Rom in die Lombardei zu einer Bar in Ischgl. Das ist die schreckliche, unberechenbare Seite der Globalisierung. Aber ich bleibe dabei: Dafür sollten wir die Virologie und die Bio Data Science haben, dass sie diese „Schmetterlingseffekte“ zwar nicht berechenbar macht, sie nicht in deterministische Prozesse verwandelt, aber uns früh warnt, dass es irgendwo auf der Welt so kommen wird. Ein berühmtes Beispiel ist die Spanische Grippe aus dem Jahr 1918. Ich zitiere aus einem Zeitungsbericht, der einen Link zu einer entsprechenden empirischen Rekonstruktion enthält:
„Proaktive Schließungen – also noch bevor ein Fall auftritt – hätten sich ‚als eine der wirksamsten nichtmedizinischen Maßnahmen erwiesen, auf die man zurückgreifen kann‘, meinte der Wissenschafter.“
Wir müssten uns also alle nun zwei bis drei Wochen isolieren, sofern das gesundheitlich möglich ist. Aber wie soll das funktionieren? Die Globalisierung ist hier an ihre Grenze gelangt, und ich glaube derzeit, sie ist gescheitert.
Ich bin im Moment ratlos und sehe tendenziell schwarz. Die empirischen Fakten sprechen gegen Variante drei: Zeitverzögerte Ausbrüche in vielen und womöglich bald allen Ländern, kein einheitliches weltweites Vorgehen. Von der heilen Welt zur möglichen Apokalypse in wenigen Tagen. Hoffen wir, dass ich nicht Recht habe.
Dieser Blogbeitrag erschien in gekürzter Fassung am 18.03.2020 in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ in der Print- und Onlineausgabe.