Das kranke Hochschulsystem Österreichs: Versuch einer Systematik (Teil 1)

Es war einmal ein junger Wissenschaftler, der dachte sich, dass es in der Wissenschaft um Erkenntnis, Innovation, Kritik, kurz: um die Sache, die wissenschaftlichen Themen an sich gehe. Nun, nicht zuletzt nach den Ereignissen der vergangenen Monate sowie immer mehr unglaublichen Informationen von Whistleblowern bin ich Stück für Stück zu einem anderen Bild gelangt. Dieses möchte ich in meinem Blog in zwei Teilen systematisch darstellen.


Beginnen wir ganz oben, beim Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF). Hier habe ich die Metapher von der „Spitze des Eisbergs“ und den Spruch „Der Fisch stinkt vom Kopf her“ parat. – Ich kenne keine empirischen Untersuchungen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie viele Spitzenbeamte im öffentlichen Dienst in Österreich eigentlich ihre Wurzeln entweder in der ÖVP oder in der SPÖ haben. Aber wo ich hinsehe, dasselbe Bild: Ein strenger Parteienproporz, eigentlich längst totgeglaubt, lässt sich nachweisen. Sehen wir uns nur die Vita des Hochschul-Sektionschefs Elmar Pichl an. Als Geldverteiler an die 22 staatlichen Universitäten ist er ein mächtiger Mann, die Rektoren müssen sich mit ihm gut stellen. „Vom Partei-Vordenker zum Wissenschafts-Planer“ titelte die „Presse“ schon im Jahr 2007 über Pichl. Natürlich war er beim Cartellverband (CV) aktiv, natürlich stammt er aus der ÖVP, und zwar aus der steirischen, ist ebendort nachzulesen. Dissertationsplagiator und Ex-ÖVP-Wissenschaftsminister Johannes Hahn hat ihn 2007 als Büroleiter nach Wien geholt. 2010 erfolgte der Umstieg von der Politik ins Beamtentum:

Quelle: LinkedIn-Profil von Elmar Pichl

Ich erlaube mir pars pro toto die Frage: Wird man in Österreich eigentlich nur etwas im öffentlichen Dienst (auf der Ebene Abteilungsleiter, Sektionschef etc.), wenn man Angehöriger einer politischen Partei ist und vorher im entsprechenden „Klub“ oder „Kabinett“ gedient hat? Wie laufen diese – auf doch hoffentlich stets öffentlichen Ausschreibungen basierenden – Auswahlverfahren bei diesen Spitzenpositionen eigentlich ab? Im Moment sehe ich überall dieselben Karrierewege. Ein zweites Beispiel: Erst vor wenigen Wochen war zu lesen, dass die Leitung der „Präsidialsektion“ (was ist das eigentlich?) des BMBWF mit Martin Netzer neu besetzt wurde. Eine Recherche ergibt schon wieder: Netzer entstammt der ÖVP und war Kabinettchef von Ex-ÖVP-Bildungsministerin Elisabeth Gehrer. Und so sah übrigens die Ausschreibung des Jobs drei Monate vorher aus.

Das Problem ist nun nicht per se, dass Top-Positionen im öffentlichen Dienst mit Personen aus politischen Parteien besetzt werden. Das Problem entsteht erst, wenn deshalb Besserqualifizierte, aber Parteilose nicht zum Zug kommen – und vor allem erst dann, wenn die Parteipersonen nicht nach dem Gemeinwohl, nicht nach der Sache, sondern primär unter Rücksichtnahme auf ihre Partei agieren und entscheiden. Und das muss man etwa Elmar Pichl in der „Causa GWP“ ganz klar unterstellen. Zuletzt zeigte sich zudem, dass das Ministerium Studiendaten zum Plagiatsproblem sprachlich-inhaltlich geglättet und aus einer nicht-validen Studie unsinnige Schlüsse abgeleitet hat.

Wenn Parteileute im öffentlichen Dienst führen, können wichtige Sachthemen blockiert werden. Ich erinnere mich noch, als ein ebenfalls ÖVP-naher österreichischer Forschungsmanager zu mir schon vor Jahren sagte, als ich ihm Forschung zum Thema Plagiatssoftware vorgeschlagen hatte: „Das geht nicht, das ist zu politisch.

Und Elmar Pichl schrieb mir schon in einer E-Mail am 24. Oktober 2020, dass eine Verjährungsfrist für Plagiate von 30 Jahren oder noch weniger angedacht sei. Er bemerkte: „Ein inhaltliches Argument jener, die eine kürzere Frist befürworten, ist da übrigens das Argument, dass es in 30 Jahren kaum Experten gibt, die dann sicher bewerten können, was vor 30 Jahren Standard war (auch ein wenig das Hahn-Thema ;-)).“ Wie mir erst jetzt bei der Re-Lektüre klar wird, ging es auch hier wohl kaum um die Sache, sondern um Parteiloyalität.


Auf Platz zwei der Pyramide des kranken Hochschulsystems Österreichs kommt das Universitätsgesetz (UG), dessen Entwürfe ja das BMBWF verantwortet. Ich habe dazu in den vergangenen Monaten meine Kritik publiziert. So sind die Begriffe „Plagiat“ und „Vortäuschenim Universitätsgesetz inkonsistent definiert. Ein neuer Ghostwriting-Paragraf blieb offensichtlich wirkungslos und war zunächst unvollständig, erst nach medialer Kritik wurde die Lücke geschlossen. Bemängelt wird seit langem weiter, dass es gegen EU-Recht verstoße, dass es im österreichischen Hochschulrecht keine Möglichkeit zur Konkurrentenklage gebe. Antiquiert ist die Amtsverschwiegenheit, sie gehört längst auch aus dem Universitätsgesetz raus. Schließlich dürfte der ganze Evaluationsmechanismus der staatlichen Universitäten nicht mit EU-Recht vereinbar sein, worauf mich erst kürzlich ein Jurist aufmerksam machte. – Da gäbe es in Summe also sehr viel zu reparieren. Aber was ist 2022 geschehen? Eine Novelle des Universitätsgesetzes wurde für das abgelaufene Jahr von Sektionschef Pichl angekündigt, um zumindest die offensichtlichsten Schwachstellen zu reparieren. Passiert ist exakt gar nichts.


Wenden wir uns der dritten Ebene des Stufenbaus eines kranken Systems zu, den mit dem UG 2002 neu geschaffenen Universitätsräten. Auch hier haben ich und mein Mitarbeiter Werner Schrittesser unlängst aufgedeckt, dass die der aktuellen Koalition entsprechende politische Einfärbung meist das entscheidende Auswahlkriterium ist. Nun, damit sind Universitätsräte aber keinen Deut besser als der hoch problematische Stiftungsrat des ORF. Hier eine (ohne Namen wiedergegebene) Überprüfung von 36 von 59 Universitätsräten, die das BMBWF der Regierung im Dezember 2022 neu vorgeschlagen hat, auf Parteizugehörigkeit oder -nähe:



Die von der Regierung entsandten Universitätsräte bilden somit vor allem eines ab: Schwarz und grün; Wirtschaftsinteressen und Gender, Tradition und Queer Studies. Nun ja.

Jüngst forderte die frisch gebackene Rektorin der Universität Innsbruck, Veronika Sexl, eine neue Anlaufstelle für gute wissenschaftliche Praxis und Plagiatsfälle in Österreich:

Meine Anmerkung dazu: Wenn auch diese Stelle so besetzt werden würde wie die Leitungspositionen im BMBWF, die Universitätsräte oder auch Vereine wie die Österreichische Forschungsgemeinschaft, so kann man es gleich sein lassen: Brisanten Themen wird mit Sicherheit nicht auf den Grund gegangen.

Mir wird mehr und mehr klar, warum in diesem Land der Stillstand regiert. Ein System blockiert sich selbst, solange Parteienherrschaft statt Volksherrschaft Alltag ist. (Wird um die Teile 4 bis 6 der Pyramide fortgesetzt.)

Näheres lesen Sie in meinem neuen Buch, das im September 2023 bei der Edition Atelier in Wien erscheinen wird.

4 Kommentare zu “Das kranke Hochschulsystem Österreichs: Versuch einer Systematik (Teil 1)

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  1. Ronald Benedik

    Wir leben in einer Gesellschaft, die sich gerne täuschen lässt. Das ist der logische Schluss aus der derzeitigen Politik. Die hiesige Wissenschaft ist moralisch gescheitert, es reicht nicht mal mehr zu den Problemen in Goethes Faust. Ein Abstieg sondergleichen.

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    1. Stefan Weber Beitragsautor

      Ich wurde daran erinnert, dass es mit Gehrers „Weltklasse-Universitäten“ auch schon so war, alles mehr Schein als Sein. Das Bildungsministerium gehört wohl dringend entrümpelt und in andere Hände. Die Mechanismen und Lügen wiederholen sich.

  2. Ralf Rath

    Insofern das „gestaltende Prinzip“ (Haag, 2018: passim, 2. Aufl.) sich niemals positiv bestimmen lässt und es dadurch sämtlichen Versuchen von vornherein entzogen ist, es auf den Begriff zu bringen, kann die Passage durch die „enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt“ (Kant, 1788: 195), nicht anders als mit einem Schritt in die negative Metaphysik gemeistert werden. Ist also das sich stets Entziehende das Positive, könnte es einfältiger nicht sein, sich bessrem Wissen frontal zuwider dazu anzuschicken, es in den Griff zu bekommen. Solch ein Zugriff verliert sich unter allen Umständen im Nichts. Die Einrichtung einer modernen Gesellschaft gestattet es einfach nicht, sich davon jemals zu emanzipieren. Sollten in Österreich dennoch parteipolitisch motivierte Anstalten unternommen werden, sich von der seit jeher bis in die fernste Zukunft hinein bestehenden Gebundenheit zu lösen, vergeudet die Republik die immer nur äußerst begrenzt verfügbaren Humanressourcen im Unverstand. Es nimmt dann nicht wunder, wenn der menschlich aus der „Lebensnot“ (Freud, 1926: 524) ansonsten geborene Geist nicht allein dort bereits „in einem embryonalen Zustand“ (Dörre/Sauer/Wittke, in: dies. (Hg.), 2012: 16) inzwischen vor seiner Ausrottung steht.

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  3. Wien bleibt Wien

    Interessant die Entwicklung von Dozent Weber: Vom „Plagjatsjäger“ auf der Suche nach un- oder unterdeklarierten Textentsprechungen in Qualifikationsschriften zu einem immer versierteren Kritiker (und Kenner!) des österreichischen Universitäts- und Wissenschaftssystems insgesamt. Der große Volker Rieble hat seinem Meisterwerk den Untertitel „Vom Versagen eines Systems“ gegeben. Was Rieble für Deutschland geleistet hat, hat Weber für Österreich vollbracht. In jahrelanger Kleinarbeit und vor allem in einem kontinuierlichen Sammel-, Lern- und Vertiefungsprozess ist er zum wohl profundesten Kenner des österreichischen akademischen „Systems“ geworden – interdisziplinär.
    Allein schon dieser Blogbeitrag lässt in Bezug auf das für September angekündigte Webersche Meisterwerk Großes erwarten: Zieht euch warm an, Plagiatoren und Impostoren, Postenschieber und -schacherer, politische Networker und akademische Nicht-worker: Ihr werdet bald vorgeführt werden!

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