Sinngemäßes Zitieren mit „Vgl.“ wahrscheinlich erst seit den 1970er Jahren normiert („GWP-History“, Teil 3)

Seit Jahren interessiert mich die noch ungeschriebene Kulturgeschichte des „Vgl.“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. (Der Verrat am „Vgl.“, der in der amerikanischen Plagiatsforschung mittlerweile „Sham Paraphrasing“ heißt, interessierte mich schon 2006).

In den ersten beiden Teilen meiner kleinen „GWP-History“ (Geschichte der guten wissenschaftlichen Praxis) hier im Blog habe ich mich mit der Entwicklung der Anführungszeichen und des Zitierens mit diesen in der Wissenschaft beschäftigt. Ich habe herausgefunden, dass doppelte Anführungszeichen bei wörtlichen Zitaten wohl erstmals explizit in Leopold Foncks Pionier-Lehrbuch „Wissenschaftliches Arbeiten“ normiert wurden, und zwar erst in der Zweitauflage 1916 (und mittlerweile weiß ich auch, warum!). Die Praxis, wörtliche Ausführungen anderer mit Anführungszeichen zu versehen, ist freilich Jahrhunderte älter.

Nun also zum „Vgl.“, dem „Vergleiche“. Wir alle haben an der Universität gelernt, dass wir damit immer dann Quellen belegen müssen, wenn wir nicht wörtlich, sondern sinngemäß (also in eigenen Worten) zitieren. Aber woher kommt diese Praxis, was ist ihr Ursprung? Meine ersten Ergebnisse lauten: Die „Vgl.“-Norm ist womöglich viel jünger, als es viele annehmen würden, Tatsächlich fand ich den bislang ältesten Nachweis der Norm in einem Lehrbuch aus dem Jahr 1976.

Eine Rückblende. Obwohl Hetzenauer schon 1902 von „wörtlichem“ und „sinngetreuem“ Zitieren sprach und sich Foncks Anführungszeichennorm von 1916 expressis verbis auf „wörtliche Zitate“ bezog, fand ich in der Methodenliteratur bis in die 1970er Jahre herauf nirgends eine strenge (dichotomische) Unterscheidung zwischen wörtlichen und sinngemäßen Zitaten:

  • Johannes Erich Heyde („Technik des wissenschaftlichen Arbeitens“, 4. Auflage, 1933) kennt „wörtliche Anführungen“ (S. 94), unterscheidet aber nicht zwischen diesen und sinngemäßen Zitaten.
  • Horst Kunze („Wissenschaftliches Arbeiten. Eine Einführung“, 2. Auflage, 1959) setzt im Abschnitt „C. Zitate“ ebenso wie Heyde Zitate mit wörtlichen Zitaten gleich und normiert wie Fonck 1916: „Jedes Zitat ist in doppelte Anführungsstriche zu setzen.“ (S. 27)
  • Auch Ewald Standop kennt in seinem Klassiker „Die Form des wissenschaftlichen Manuskripts“, 2. Auflage, 1959) nur wörtliche Zitate. Im Kapitel II, „Das Zitat“ (S. 19 ff.) und erst recht im Unterabschnitt „Die Form des Zitats“ (S. 22 ff.) wird unter Zitat nur das wörtliche Zitat verstanden. – Allerdings kommt das sinngemäße Zitat (noch nicht so genannt!) über die Hintertür herein, wenn Standop schreibt:

„Werden längere Passagen einer Quelle inhaltlich übernommen oder paraphrasiert […], so kann man in der Fußnote etwa sagen: ‚Das folgende nach…‘ […] Auf keinen Fall kann auf die Quellenangabe verzichtet werden.“ (Standop 1959, S. 26)

  • Das „Vgl.“ empfiehlt auch Standop noch nicht. Die Geburt der „Vgl.“-Norm für das sinngemäße Zitieren dürfte bei Gundolf Seidenspinner zu finden sein („Wissenschaftliches Arbeiten. Techniken, Methoden, Hilfsmittel“, 7. Auflage, 1976). Seidenspinner bemerkt:

„Sofern man von einem Autor nur Gedanken übernimmt oder sich an dessen Ausführungen anlehnt, liegt nur ein sinngemäßes oder indirektes Zitat vor. Der Umfang einer solchen sinngemäßen Übernahme muß eindeutig erkennbar sein. Am Ende einer solchen übernommenen Passage wird eine Fußnote angebracht […]. Eine solche Fußnote leitet man ein mit: „Vgl.“ (= Vergleiche) […].“ (Seidenspinner 1976, S. 61)

Zuvor wurde das „Vgl.“ in der wissenschaftlichen Literatur vor allem dafür verwendet, um innerhalb ein und desselben Werks auf andere Seitenzahlen im Werk zu verweisen: „Vgl.“ war ein interner und kein externer Marker. Erst mit Seidenspinner dürfte es zur Quellenangabe bei sinngemäßen Zitaten „befördert“ worden sein. Und noch später dürfte das „Vgl.“ mit der Harvard-Zitierweise direkt in die Fließtexte herauf gewandert sein.

  • Seinen endgültigen Lehrbuch-Siegeszug hat das „Vgl.“ dann mit Manuel Theisens Klassiker „Wissenschaftliches Arbeiten“ angetreten. Schon in der ersten Auflage 1984 ist bei Theisen auf S. 130 zu lesen:

Interessant ist, dass das „Vgl.“ auch hier noch im Fußnotentext verortet wird, die Norm für den Fließtext könnte noch jüngeren Datums sein. Sie hat sich vielleicht erst Ende der 1980er Jahre durchgesetzt. Wie immer: Ich bin dankbar für weitere Funde! (Wird fortgesetzt)


Ich danke Klaus Graf für Funde zur Kulturgeschichte des „Vgl.“ sowie Manuel Theisen.

5 Kommentare zu “Sinngemäßes Zitieren mit „Vgl.“ wahrscheinlich erst seit den 1970er Jahren normiert („GWP-History“, Teil 3)

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  1. Ernst Schwadisch sen.

    Weil Sie nach dem Fach gefragt haben, auf welches ich mich (80er Jahre) beziehe: Ich war so was wie ein „Quasi-Lektor“ für etliche Fächer. Habe selber zwei volle Magisterstudiengänge gemacht mit einem Abschluß. In allen Fächern war es damals verpönt, mit „Vgl.“ zu arbeiten. Wenn ein Absolvent das benutzt hat, habe ich gefragt: „Was soll der Leser jetzt machen? Muss er überhaupt etwas machen? Ist Deine Arbeit anderenfalls minderer Wirkung oder minderer Qualität? Wird Deine Arbeit erst dadurch vollständig, dass der Leser jetzt seinerseits etwas unternehmen muss? Du siehst, das kann nicht sein. „Vergleiche“ ist ein Imperativ. Erkenne, dass Deine Arbeit bewertet wird für das, was Du geschrieben hast, und hier nicht der Leser eine Note bekommt.“ — Die Studenten sahen es auf der Stelle ein und meinten, das hätten sie schon woanders so gesehen; aber es eigentlich nicht für koscher gehalten. Es habe sich jetzt überall eingeschlichen. So weit waren wir dann in den 90ern, als ich lektorierte. In den 80ern kam das „Vgl.“ in Deutschland jedenfalls nur sehr, sehr, selten vor. Die Fächer waren hauptsächlich: Rechtswissenschaft (Seminararbeiten der „Großen“ Scheine), Sozialwissenschaften, Philosophie, Germanistik, BWL und VWL.

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  2. Ernst Schwadisch sen.

    Sie schreiben: „Zuvor wurde das „Vgl.“ in der wissenschaftlichen Literatur vor allem dafür verwendet, um innerhalb ein und desselben Werks auf andere Seitenzahlen im Werk zu verweisen: „Vgl.“ war ein interner und kein externer Marker.“ — Damit könnte man leben. Allerdings sollte die Bezugnahme präzise erfolgen. Etwa nur eine Seite (intern) zu nennen, verlangt vom Leser Sucharbeit, die er eigentlich gar nicht erbringen muss. Besser wäre es in diesem Fall: entweder a) den Gedanken auf der internen Seite, auf den Bezug genommen wird, stichwortartig zu nennen oder b) die Fußnote mit der Nummer zu nennen oder c) die Zeilennummer anzugeben.
    Die Vorstellungen von Seidenspinner und Theisen sind abzulehnen. Denn diese sind genau diejenigen Einfallstore für die dann in den späten 80er und in den 90er Jahren beginnende Unsauberkeit beim Zitieren. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Auch die indirekten Zitate können mit Hilfe der deutschen Sprache – ohne jede Schwierigkeit – in den Fließtext (also in die Sprachsyntax) eingebaut werden. Dort dann mit Anführungszeichen und mit Fußnote. Bei „Vgl“ ist schlichtweg die Versuchung zu groß, Gedanken zu stehlen oder Belege unterzuschieben, die gar keine sind, oder Belesenheit vorzutäuschen. Und die Krönung ist dann immer (wenn man später erwischt wird), dass der Kandidat aalglatt behauptet, er habe „doch“ alle Quellen genannt. Wehret den Anfängen, hätte man damals sagen müssen. Diese scheinen demnach bei Seidenspinner und Theisen zu liegen.

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    1. Stefan Weber Beitragsautor

      Sehr spannende These, dass die heutigen Zitierschlampereien nicht (nur) durch die Digitalisierung, sondern (auch) durch die Inflation des „Vgl.“ ausgelöst wurden.

      Darf ich fragen, von welchem Fach Sie berichten?

      Die Psychologen verbieten das „Vgl.“ etwa völlig, siehe die Richtlinien zur Manuskriptgestaltung der DGPs.

      In der numerischen Zitierweise der Naturwissenschaften kommt es bekanntlich gar nicht vor.

      „Vgl.“ ist ein „Mem“ der Sozialwissenschaften.

      Siehe dazu von mir auch: https://zitieren.at/wiki/%E2%80%9EVgl.%E2%80%9C

  3. Ernst Schwadisch sen.

    Ergänzung zum letzten Satz meines vorherigen Kommentars: „Vgl“ hatte auch nichts mit „belegen“ oder mit „beweisen“ zu tun. Die Verwendung von „Vgl“ passte zum Beispiel dann, wenn der Ersteller eines Werkes gegenüber dem Leser des Werkes gegenüber „vorbauen“ wollte, falls dieser sich beim Lesen denkt: „So etwas Ähnliches habe ich schon einmal gehört.“ — Betraf diese etwaige (oder erwartete) Assoziation des Lesers einen Kerngedanken des vorliegenden Werkes, so musste man der Assoziation des Lesers dadurch gerecht werden, dass man den Zusammenhang im Fließtext an Ort und Stelle oder zumindest in einer ausführlichen Fußnote komplett und – nach Möglichkeit abschließend – herstellt. „Mittelschwere“ Zusammenhänge zwischen Kerngedanken des Werkes und reinen „Ähnlichkeiten“ mit den Aussagen Dritter durften selbstverständlich auch in einem separaten Anmerkungsabschnitt am Ende der Arbeit (vor den Literaturangaben) erörtert werden. Demnach durfte „Vgl“ strenggenommen nur gerade dann verwendet werden, wenn man es „genausogut“ auch hätte seinlassen können. „Vgl“ passt allerdings sehr gut zu einer aufgeblasenen Generation mit aufgeblasenen Abschlußarbeiten, wenn man von der oben beschriebenen, erlaubten Verwendungs-Variante des „nur freundlich sein Wollens“ und des defensiven Hinweisgebens (ohne Argumentations-Zusammenhang zum Werk) einmal absieht. Besser wäre, man würde komplett auf „Vgl“ verzichten. Denn: Entweder der damit hergestellte Bezug ist wichtig resp. notwendig, erläutert zu werden; dann gehört das Ganze in den Fließtext (samt Fußnote oder Anmerkung mit korrekter Zitation). Oder der Bezug ist nicht relevant: Dann gehört er auch besser gar nicht in das Werk.

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  4. Ernst Schwadisch sen.

    Ich kann mich gut erinnern, dass diese „Vgl-Verrücktheit“ während meines Studiums in den 80er Jahren bereits ein Thema war. Dozenten rieten recht deutlich davon ab, mit dieser „Wichtigtuer-Floskel“ zu arbeiten. Auf gar keinen Fall war damals gestattet, diese Abkürzung für Zitate zu verwenden. Weder für direkte noch für indirekte. Die Bedeutung war (demnach zu Beginn dieser „Unpraxis“) ausschließlich, dass man damit ausdrücken durfte (niemals musste), einen Hinweis für diejenigen Leser zu geben, welche eventuell (EVENTUELL !!!) ein Bedürfnis haben, einen soeben angesprochenen reinen Nebenaspekt an anderer Stelle weitergehend zu vertiefen, zu ergründen, zu erforschen – sprich: einen Nebenaspekt, der nur thematisch (ohne Relevanz für das jeweilig vorliegende Werk) angeschnitten worden war, seinerseits selbständig nachzurecherchieren, um dann entweder eigene Studien daran zu beginnen oder um es eben damit dann auch schlicht darauf beruhen zu lassen. Man könnte auch sagen: Dieses „Vgl“ konnte und durfte allenfalls „etwas Nettes“ sein, um dem Leser freundlich einen Hinweis zu geben, falls er dieses Nebenthema ggf. vertiefen wolle. Nochmals: Auf gar keinen Fall hatte (vor ca. 40 Jahren) „Vgl“ irgendetwas mit Zitieren zu tun.

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