Von Guttenberg zurück zu Lammert: Das Wissenschaftsplagiat hat also eine (lange!) Tradition

„Reichen Beanstandungen in Hinweisen zu weiterführender Literatur überhaupt aus, um einen Plagiatsvorwurf zu konstruieren und diesen öffentlich zu machen?“, fragt „Der Tagesspiegel“ heute. Journalisten darf man kaum vorwerfen, dass sie in der tagesaktuellen Hektik die eine oder andere Reduktion von Komplexität begehen und eben schnell mal uns, die Plagiatsexperten fragen (Ihr werter Plagiatsgutachter, ansonsten immer brav online, war heute wegen seines Urlaubs tagsüber nicht erreichbar). Bedauerlich sind dann aber vorschnelle Wortspenden, wie etwa jene meiner ansonsten wertgeschätzten Kollegin Debora Weber-Wulff: „Für die Plagiatsexpertin Debora Weber-Wulff (HTW Berlin) ist fraglich, ob man bei den beanstandeten Stellen wirklich von Plagiat sprechen kann“, ist heute ebenfalls im „Tagesspiegel“ online nachzulesen. Nun ja, wenn hier korrekt zitiert wurde, muss ich ganz klar sagen: Hier handelt es sich um ein glattes Fehlurteil. Ebenfalls irrt in der Causa Lammert der ansonsten gestrenge Volker Rieble.

Wahr ist vielmehr: Herr Bundestagspräsident Norbert Lammert hat ebenfalls plagiiert. (Ob er in wesentlichem Umfang plagiiert, also getäuscht hat, dazu maße ich mir heute noch kein Urteil an. „Robert Schmidt“ möge schleunigst ein Gesamt-PDF der Fundstellen online stellen.) – An der Beweisführung gibt es schon jetzt kaum etwas zu rütteln: Auf S. 2 der Buchfassung seiner Dissertation belegt Lammert ein kurzes direktes Literaturzitat (ca. einen Halbsatz) mit Fußnote 12 und einem Aufsatz von Hans-Otto Mühleisen. Auf S. 3 der Buchfassung der Dissertation taucht Mühleisen nicht mehr auf. Es beginnt auch, für den Leser klar erkennbar, eine neue Sinneinheit, nämlich ein historischer Exkurs zur Parteienforschung, für den sich Lammert zunächst auf Austin Ranney beruft. Lammert hat aber auch diese Ausführungen – sprachlich zum Teil stark paraphrasiert, aber doch ebenso deutlich als Ideenplagiat erkennbar – von dem nicht weiter referenzierten Mühleisen abgeschrieben. Ranney wird ‚gleichrangig‘ wie Mühleisen zitiert – obwohl Lammert nur Mühleisen rezipiert hat, aber höchstwahrscheinlich nie Ranney. Das ist ein No-Go. Das war es auch schon 1974. Dazu ein passendes Literaturzitat:

„Wer aus zweiter Hand zitiert, setzt sich der Gefahr aus, Fehler zu übernehmen […]. [Uns] ist ein Plagiatprozeß bekannt, in dem die Übernahme eines Zitats aus zweiter Hand mit einem Zitatfehler den Nachweis für den Tatbestand des Plagiats darstellte. […] Das Zitieren aus zweiter Hand gilt vielfach als unwissenschaftlich […]. In Dissertationen, Diplomarbeiten, Staatsexamensarbeiten und Habilitationen ist diese Zitierweise strikt zu vermeiden.“ (Böttcher, Winfried/Zielinski, Johannes, 1973: Wissenschaftliches Arbeiten. Theoretische Grundlagen und praktische Einübung. Düsseldorf: Droste, S. 81.)

Ein weiterer Blick in die Lammertplag-Dokumentation zeigt: Es geht bei Lammert nicht bloß um das Vortäuschen von „weiterführender“ Literaturrezeption in Fußnoten, sondern sehr wohl auch fast immer um das Umschreiben ungenannter Quellen im Fließtextbereich.

Der Entdecker des Schavan- und nunmehr des Lammert-Plagiats hat erneut mit wohl einzigartiger Akribie, Zähigkeit und Ausdauer beim Quellenvergleich gearbeitet. Der Mann (oder die Frau? oder das Team?) scheint über ein erstaunliches Zeitvolumen zu verfügen und ändert damit (leider) die Besetzungsliste der bundesdeutschen Spitzenpolitik im Moment mehr als die bundesdeutschen Universitäten.

Er hat nunmehr endgültig darauf hingewiesen, dass das Plagiat im Wissenschaftsbetrieb eine irritierende und bislang nicht freigelegte Historie hat (das ist die wahre ‚Wissenschaftsarchäologie‘!). Von Guttenberg zurück zu Lammert ist es ein erstaunlicher Weg, und man könnte wohl auch ins 19. Jahrhundert oder klarerweise noch weiter zurückgehen. Das „Systemische“ des Problems, gegen das ich hier seit 2010 anschreibe, wird uns einmal mehr radikal vor Augen geführt – und gleichzeitig auch das system(at)ische Schweigen der Universitäten.

Ich habe in den vergangenen Monaten zahlreiche Begutachtungen von Dissertationen durchgeführt – die älteste aus dem Jahr 1983, die jüngste aus dem Jahr 2009. Ich war Gutachter für ganz unterschiedliche Fachdisziplinen. Wenn man ganz genau hinsieht, macht man bei vielen Arbeiten eine wahrlich verstörende Entdeckung: Es wurde viel mehr ab- und umgeschrieben, als wir denken. Das in den Lehrbüchern, Promotionsordnungen und Hochschulgesetzen Untersagte ist möglicherweise nicht der Ausnahmefall der Wissenschaft, sondern die Regel.

6 Kommentare zu “Von Guttenberg zurück zu Lammert: Das Wissenschaftsplagiat hat also eine (lange!) Tradition

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  1. Der von Neulich

    Zu Heßbrüggens Beitrag. Genau: Lammert wollte nicht, daß die Sache „in die Länge gezogen“ wird, sondern hat husch-husch gemacht. Vielleicht hielt er seine Arbeit für wissenschaftlich, aber heraus kam doch nur ein ausgekippter Zettelkasten zum Parteienwesen und dann eine Indiskretion aus dem eigenen Kreisverband, mit Hilfe des Quellenteils über die 200-Seiten-Marke geschoben. Schenkt man solchen Büchern Beachtung, wenn man sich nicht gerade mit der damaligen CDU im Ruhrgebiet beschäftigt?

    Darum bin ich mit dem, was unser werter Plagiatsgutachter schreibt, nicht so ganz glücklich. Da heißt es:

    „Es wurde viel mehr ab- und umgeschrieben, als wir denken. Das in den Lehrbüchern, Promotionsordnungen und Hochschulgesetzen Untersagte ist möglicherweise nicht der Ausnahmefall d e r W i s s e n s c h a f t , sondern die Regel“ (Hervorhebung von mir – chic, gell?).

    Nicht „der Wissenschaft“, sondern „des Unibetriebs“, „bei akademischen Abschlußarbeiten“ oder so! Denn die Schummelliesen und -fritzen haben sich und ihre Hervorbringungen doch außerhalb der Wissenschaft gestellt. Und manches wurde auch bald durch eine entsprechende Rezension ans Licht gebracht.

    So, und jetzt träum‘ ich weiter.

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  2. Stefan Heßbrüggen

    Ich habe mir heute nacht die Arbeit einmal im PDF mit besonderem Augenmerk auf das Zitieren aus 2. Hand angesehen. Ich bin zwar nicht selbst Sozialwissenschaftler, habe aber öfters mit welchen geredet. Mein folglich nur laienhafter Verdacht: die problematischen Stellen häufen sich im „Theorieteil“ der Arbeit, während der empirische Teil weniger Sekundärquellen und diese meistens trennscharf zitiert (also mit genauer Seitenangabe, die Autopsie vermuten lässt). Der junge Doktorand scheint damals also geglaubt zu haben, er müsse den Forschungsstand in enzyklopädischer Breite erfassen. Unter den Bedingungen analoger Literaturbeschaffung hätte das die Bearbeitungszeit allerdings sicherlich in die Länge gezogen.

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  3. Erbloggtes

    So ist es. Das Buch, das es „nicht gibt“, ist ja nicht an sich ein Problem, sondern bloß eines von mehreren schlagenden Indizien dafür, dass Lammert bei Naschold übernommen hat, ohne das zu kennzeichnen.

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  4. Erbloggtes

    Rieble hat Recht mit: „Dies hier ist kein offenkundiges Textplagiat“. Was ihm Preuß sonst noch zuschreibt („unproblematisch“), glaube ich einfach erstmal nicht. Wie soll man Preuß auch irgendwas glauben, wenn er (wie so viele andere Unverständige) behauptet, „Schmidt hat lediglich ein Drittel von Lammerts Doktorarbeit überprüft, die Untersuchung wird nun weitergehen – […] auch im Internet.“

    Richtig ist: Schmidt hat seine Untersuchung für beendet erklärt, nachdem er auf 36,2% der Seiten des Haupttextes ungekennzeichnete Übernahmen nachgewiesen hat. Dazu hat er garantiert mehr als ein Drittel von Lammerts Doktorarbeit überprüft. Selbst wenn er auf jeder überprüften Seite solches Fehlverhalten gefunden hätte, hätte er ja zumindest 36,2% der Seiten überprüfen müssen.

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    1. admin

      Ja, klar. Alle, die gestern und heute „positive“ Wortspenden abgegeben haben (Weber-Wulff, Rieble, Jäger, Mühleisen), haben genau den Fehler gemacht, vor dem seit Jahren gewarnt wird: Eine oberflächliche, kursorische Lektüre von Lammertplag lässt tatsächlich den Eindruck entstehen, hier sei etwas an den Haaren herbeigezogen. Weber-Wulff und Rieble haben genau das gemacht, was sie ansonsten jenen Betreuern vorwerfen, die Plagiate übersehen – schade. Man muss sich m. E. den ganzen Spaß ausdrucken und mit Textmarker arbeiten (so wie ich es heute Nacht getan habe). Dann stehen einem die Haare schnell zu Berge, aber eben ‚andersum‘. Was „Robert Schmidt“ didaktisch nicht gut gemacht hat, war die Tatsache, dass er weder ein PDF mit den bisherigen Funden ins Netz gestellt hat noch Wortketten-Übereinstimmungen, idealerweise farblich abgestuft, markiert hat. So muss man sich mit einem gewissen Maß an Konzentration auf jede Fundstelle einlassen. Und bei den Emeriti (siehe die lächerliche Diskussion um das Buch, das es „nicht gibt“) glaube ich mittlerweile sowieso, dass sie gar nicht im Netz sind und nach Informationen von Dritten Urteile abgeben. Bedauerlich, dass diese Stimmen heute groß in den Leitmedien vertreten sind. Aber rückblickend wird das auch ein Sittenbild der Wissenschaft sein, wie im Fall Schavan.

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