Schon seit Jahren interessiert mich, woher die wissenschaftlichen Zitierregeln eigentlich kommen. Und damit meine ich zunächst heutige kleinste gemeinsame Nenner wie etwa:
- Wörtliche Zitate werden in doppelte Anführungszeichen gesetzt. Oder:
- Sinngemäße Zitate müssen an Ort und Stelle mit einer Quellenangabe versehen sein.
(Sofern freilich die Unterscheidung zwischen diesen beiden Zitatarten überhaupt getroffen wird, was in gewissen naturwissenschaftlichen Disziplinen nicht der Fall ist.)
Meine ersten beiden Hypothesen zur Herkunft der Zitiernormen lauten:
1. Anführungszeichen wurden in der Wissenschaft zur Kennzeichnung des Wortlauts eines anderen zumindest schon kurz nach der Entstehung des Buchdrucks verwendet (siehe den Beitrag von Castellani hier). Und bereits vorher kennzeichnete man die direkte Rede des anderen mit Diples (Doppelhaken), dies interessanter Weise meist am Anfang jeder neuen Zeile. Einige Quellen behaupten, dass diese Praxis im Mittelalter noch eher salopp gehandhabt wurde. Laut Wikipedia lässt sie sich aber bis ins 2. Jahrhundert nach Christus zurückverfolgen.
2. Aus der jahrhundertelang sich zunehmend verfestigenden Praxis wurde irgendwann eine Regel. Und diese Regel war zunächst eine Deutsch-Regel, genauer: eine Interpunktionsregel (Satzzeichenregel), und so klarerweise gültig für alle Textsorten. Die bislang älteste mir bekannte Ausformulierung einer Regel zur Verwendung des Anführungszeichens („signum citationis“) findet sich hier:
Hieronymus Freyer (1722/28): „Anweisung zur Teutschen Orthographie“, Halle, Kapitel „Von den Unterscheidungszeichen“:
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam die Hodegetik auf (Namensgebung im Werk „Vorschlag zu einer neuen Profession ‚Hodegetica'“ von Schade, 1753), der Vorläufer der heutigen Regeln guter wissenschaftlicher Praxis (GWP). Die Hodegetik, verstanden als Wegweiser in die Wissenschaft für die neuen Studierenden, beschäftigte sich mit dem Zitieren, soweit ich es derzeit überblicke, noch nicht. Allerdings gab es die Unterscheidung zwischen eigenem und fremdem geistigen Eigentum bereits, die Gundling 1726 eingeführt hatte. Hier wieder das älteste Beispiel, das ich bislang gefunden habe:
Erduin Julius Koch (1792): „Hodegetik für das Universitaets-Studium an allen Facultäten“, Berlin, S. 119, zu befolgende „Behutsamkeits-Regeln“ des jungen Studierenden:
Man kann diese Passage als eine frühe Form der heute allgemein anerkannten Regel lesen, dass wirklich jeder aus der Literatur entnommene Gedanke als solcher belegt werden muss („als daß er nur einen fremden Gedanken in fremder Form zum eigenen Prunke mißbrauchen könnte“).
Die älteste Ausbuchstabierung der wissenschaftlichen Zitierregeln fand ich bei einem Pater, Theologie-Lektor und Bibliothekar der Universität Innsbruck, bei Michael Hetzenauer in seinem kleinen Buch „Abschreiben oder Benutzen?“, Innsbruck, Rauch-Verlag, 1902. Das Buch ist völlig unbekannt. Österreichweit gibt es etwa nur noch zwei Bibliotheksexemplare (eines habe ich derzeit!):
Auf S. 15 findet sich die Soll-Bestimmung zur Verwendung von Anführungszeichen beim wörtlichen Zitieren:
Auf S. 6 findet sich die Unterscheidung zwischen direktem und sinngemäßem Zitat:
Wie gesagt: Ältere Quellen habe ich bislang nicht gefunden. – Ich danke meinen Blog-Lesern für weiterführende Hinweise.
Vorläufig lauten daher meine Hypothesen 3 und 4:
3. Die Norm zur Setzung von Anführungszeichen bei direkten Zitaten wurde in der Wissenschaft erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausbuchstabiert. Sie findet sich dann aber seit den 1930er, spätestens seit den 1950er Jahren in allen Standardwerken zum wissenschaftlichen Arbeiten, wie etwa in jenem von Ewald Standop („Die Form der wissenschaftlichen Arbeit“).
4. Die Kennzeichnung von sinngemäßen Zitaten mit „(Vgl.)“ dürfte sich in den Sozialwissenschaften erst in den 1950er oder 1960er Jahren entwickelt haben. Ein Kollege von mir ist dran. Er untersucht, wer als erster wann mit „(Vgl.)“ zitierte und in welchem Lehrbuch die älteste diesbezügliche Regel zu finden ist.
In Teil 2: Alle Wege führen derzeit an die Universität Innsbruck, was die Entstehung der wissenschaftlichen Zitiergebote zumindest im deutschsprachigen Raum anbelangt. Leopold Fonck dürfte mit seinem Werk „Wissenschaftliches Arbeiten“ (Erstauflage ebenfalls Innsbruck, Rauch-Verlag, 1908; Zweitauflage Rom, 1916) ein bislang komplett ungewürdigter Pionier der wissenschaftlichen Arbeitstechniken gewesen sein. Foncks Buch dürfte damals ein Standardwerk gewesen sein, übersetzt in drei Sprachen, erschienen in mehreren Auflagen und zig-tausendfach gedruckt. Wikipedia erwähnt es nicht einmal in Foncks Literaturliste.
Das „vgl.“ habe ich im Studium als einen überaus seltenen Hinweis kennengelernt: Es bedeutet, dass man z. B. Daten oder Fakten aus einem Werk entnimmt, ohne dass man der Interpretation des jeweiligen Autors zustimmt. Das ist aber vielleicht eine Vorstellung, die heute kaum noch nachvollzogen werden kann.
Für indirekte Zitate genügte dagegen das Kurzzitat, das auch für die direkten Zitate genutzt wurde: damals Havard, heute vermutlich APA. Die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Zitat bestand dann lediglich in den Anführungsstrichen. Alles andere wurde als „unökonomisch“ angesehen.