Man nennt das, glaube ich, Ironie der Geschichte: Vieles spricht dafür, dass die modernen Regeln wissenschaftlichen Arbeitens vor knapp 120 Jahren an der Universität Innsbruck erstmals kompakt verschriftlicht wurden – und damit ausgerechnet an jener Universität, die sich in den vergangenen 20 Jahren durch eine besondere Untätigkeit in Sachen Titelaberkennung bei schwerwiegenden Plagiaten ausgezeichnet hat, in der aber darüber hinaus das Thema Zitieren auch so oft mit Füßen getreten wird.
Der Vater unserer heute weit verbreiteten Arbeitsmethoden im Umgang mit wissenschaftlichen Informationen dürfte der in Innsbruck sechs Jahre lehrende Theologe Leopold Fonck sein. Auf ein Standardwerk von ihm (erschienen in drei Auflagen 1908, 1916 und 1926) folgten ab den 1930er Jahren immer mehr Lehrbücher zum wissenschaftlichen Arbeiten, von Standop bis Theisen.
Leopold Fonck, 1865-1930, von 1901 bis 1907 Professor für Theologie an der Universität Innsbruck, Aufnahme vom Dezember 1907, hier die Bildquelle
Aus den ansonsten ausnahmslos theologischen Publikationen Foncks ragt dieses Werk heraus: „Wissenschaftliches Arbeiten. Beiträge zur Methodik des akademischen Studiums“, erschienen in einem Umfang von 340 Seiten im Jahr 1908 im Verlag Felizian Rauch, Innsbruck.
Und diesen in der Jetztzeit doch sehr vergessenen Fund halte ich nicht nur wegen des Bezugs zur heute zu diesem Thema fragwürdigen Universität Innsbruck für eine kleine Sensation. Ich habe bislang kein Buch vor Foncks Werk gefunden, das sich ausnahmslos den wissenschaftlichen Arbeitstechniken widmet, vom Präsentieren über das Exzerpieren bis zum Zitieren – und das, wie Fonck gleich im Vorwort (S. VIII f.) selbstbewusst erklärt, über die Theologie hinaus, gültig für alle Fächer der „positiven Geisteswissenschaften“ (S. IX) . Zwar gibt es vereinzelt Darstellungen auch aus der Zeit um ca. 1900, aber in älteren Lehrbüchern wurde das nie so systematisiert dargestellt wie bei Fonck. (Wer Gegenteiliges zu wissen glaubt und ältere Quellen kennt, bitte mich zu informieren!)
Das Buch ist von vorne bis hinten eine Fundgrube für jeden an guter wissenschaftlicher Praxis (GWP) Interessierten. Zunächst nur ein spannendes Detail: In der Erstauflage Fonck 1908 fanden sich noch keine Regeln zum Setzen von Anführungszeichen bei wörtlichen Zitaten. Diese Regel, die Regel Nr. 8, wurde erst in die Zweitauflage 1916 (!) eingefügt. Damals lehrte Fonck bereits in Rom, er war zu Höherem berufen:
Quelle: Leopold Fonck (1916), Wissenschaftliches Arbeiten, 2. Auflage, S. 270.
Ich glaube nicht, dass Fonck die Anführungszeichen-Norm in der Erstauflage vergessen hat. Vielmehr dürfte die Praxis des Anführens mit den „Gänsefüßchen“ so selbstverständlich gewesen sein, dass sie vielleicht in seinen Augen zunächst gar keiner Erwähnung bedurfte. Womöglich hat Fonck damit die Anführungszeichen-Norm im Jahr 1916 erfunden! Die Praxis ist freilich Jahrhunderte älter.
Besonderes Augenmerk widmete Fonck auch den Themen Ehrlichkeit beim Zitieren, Plagiatsvermeidung und dem „Ad fontes“-Prinzip:
Quelle: Leopold Fonck (1916), Wissenschaftliches Arbeiten, 2. Auflage, S. 266.
Fonck zitiert hier Hans Schmidkunz, der sich über die mangelnde Zitierkompetenzen der damaligen akademischen Generation beschwert. Wie sich die Geschichte nur wiederholt! (Wird fortgesetzt)
Ganz toll. So etwas erfreut ungemein. Danke für die Recherche. Ich nutze die Gelegenheit, um eine Anekdote zu erzählen. Zuvor die Bemerkung, dass ein leichtes „Draufhauen“ auf die österreichische Wissenschaft deswegen in meinen Augen vertretbar ist, weil immerhin die wissenschaftliche Ehre des Landes durch Fonck auch grundsätzlich für die Zukunft (verdeckt) gesichert ist. Und jetzt die kleine Geschichte: In den 70er Jahren war ich noch ein Kind. Ich muss ca. 11 oder 12 Jahre alt gewesen sein, vielleicht sogar jünger. Mein Vater (kein Voll-Akademiker) hatte so etwas wie einen Abschluß an einer technischen Fachhochschule – würde man heute dazu sagen. Er und ich unterhielten uns über Österreich. Es ging um einen Arzt. Ich sagte: „Der Doktor XYZ…“ Da griff mein Vater energisch ein: „Ja, ja, österreichischer Doktor, Schmalspur-Doktor…“ Und dann: „Dir muss klar sein, dass viele Deutsche, die es in Deutschland an einer Universität nicht schaffen, dann nach Österreich gehen. Dort ist der akademische Abschluß leichter zu schaffen. Die Prüfer schauen nicht so genau hin. Da wird auch kräftig geschmiert. Die betreiben da Schmuh. Weiß jeder.“ Die Aussagen waren für mich ernüchternd. Da ich es nicht zu 100% glauben wollte, habe ich später im Studium immer wieder Österreicher mit den Aussagen meines Vaters konfrontiert. Ausnahmslos jeder (JEDER und JEDE !!!), mit denen ich darüber sprach, hat hinter vorgehaltener Hand gesagt, dass da in jedem Falle etwas dran ist. Das heißt nicht, dass dies für jeden akademischen Abschluß so sein muss. Aber es sei in jedem Falle etwas dran. Was weiterhin stark auffällt: Jeder Popels-Magister legt offenbar in Österreich wert auf die Magister-Anrede. Es scheint ein Ersatz zu sein für die gestrichenen Adels-Titel. Drittens fällt eine – im Gegensatz zu Deutschland – bestimmte Mentalität bezüglich einmal erworbener akademischer Titel auf. Diese dürfen in Österreich – wie eine Art Erb-Titel – nie mehr in Frage gestellt werden. Der Beschiss soll also institutionalisiert sein. Dass die Allgemeinheit schließlich zuvor auch das Studium an einer Universität überhaupt erst möglich gemacht hatte und somit ein Recht hat, Abschlüsse zu hinterfragen, interessiert kaum jemanden. Um noch einem Vorwurf vorzubeugen: Nein, mein Vater hatte nichts gegen Österreich. Er war der Sohn einer Österreicherin. Ein Viertel der Verwandtschaft lebt(e) in Wien. Nachtrag: Besonders witzig ist, wenn nicht-akademische Österreicher meinen, einen Plagiator mit folgenden Aussagen verteidigen zu müssen: „Ist eh egal, ob einer einen Doktor hat. Die Doktoren sind sowieso keine besseren Menschen. Von daher ist es mir egal. Lass ihm doch seinen Doktor.“ Auch in diesem Punkt gibt es einen Mentalitätsunterschied zu Deutschland: In Deutschland sind die „kleinen Leute“ (ganz stark) mehrheitlich sehr, sehr sauer über die Plagiatoren, über diese Betrüger. Denn in Deutschland scheint man eher zu wissen, welch Riesenvorteile im Berufsleben die Titel-Diebe sich damit erschlichen haben. Da wird der Piefke echt grantig.
In Österreich wird das einige verwundern, dass die Forderung, ordnungsgemäß zu zitieren, nicht eine Marotte von Herrn Weber ist, der einfach nur lästig sein will. Da scheint es doch tatsächlich Kapazitäten gegeben zu haben, die die Einhaltung der GWP einige Jahre davor schon verlangt haben, und zwar mit Nachdruck…
Wie vergesslich die Welt – und auch die Wissenschaft – ist!
Lieber Georg III.!
Ich verweise auf Teil 1: https://plagiatsgutachten.com/blog/zitierregeln-herkunft-teil-1
GWP-History ist ein enorm spannendes Gebiet. Mittlerweile habe ich sogar eine Anleitung für juristisches Arbeiten aus dem Jahr 1901 (!) gefunden. In dieser wird normiert, dass auch Gesetzesstellen unter Anführungszeichen gesetzt werden sollen. Da sind wir heute ein Stück weit davon entfernt…