Jenseits der Fakten: „Januskopf-Journalismus“ gefährdet die Demokratie

Es ist ein Bericht unter Abertausenden dieser Art. Die Machart ist aber immer dieselbe: Journalistinnen und Journalisten glauben offenbar, dem Ideal der Objektivität zu entsprechen, wenn sie einfach über Auffassung und Gegenauffassung oder über Kritik und Replik auf sie berichten – und fertig. Diese Form des Journalismus verharrt meist nur auf der Ebene der Wortspenden oder der Pressemitteilungen. Und dieser Journalismus interessiert sich nicht dafür, den Dingen auf den Grund zu gehen, er dringt nicht (mehr) zu den Fakten vor.

Ich halte diese Art des Journalismus, die nur noch Meinung A und Meinung Nicht-A präsentiert, mittlerweile für ein gigantisches Problem und journalistisches Versagen unserer Tage. Ich nenne das heutzutage weit verbreitete Phänomen den „Januskopf-Journalismus“. Allen Berichten dieses Musters ist gemeinsam, dass sich der Rezipient oder die Rezipientin nicht mehr auskennt: Ja, was stimmt denn nun? Das erst öffnet Tür und Tor für Verschwörungstheorien und für Glauben und Mutmaßen statt Wissen. Haben Sie nicht auch schon einmal festgestellt, dass Sie nach Lektüre einer Tageszeitung oder eines Online-Angebots genau so viel oder wenig wissen wie zuvor?

Ein Korruptionsverdacht wird erhoben, der Beschuldigte dementiert. Fertig. Ein Plagiatsvorwurf wird erhoben, die Beschuldigte dementiert. Partei A sagt, die Regierung habe etwas versemmelt. Die Regierung sagt, es sei alles im Plan. Fertig. Usw. usf.

Ein geradezu perfektes Beispiel dieser Art ist dieser aktuelle Bericht des „Standard“. Der Bericht rezitiert die Auffassung A, jene von Ministerium und Elternvertretern. Dann rezitiert er die Auffassung B, die vom technischen Anbieter vertreten wird. Der Bericht oszilliert zwischen den Auffassungen A und B hin und her. Der Leser oder die Leserin hat am Ende keine Ahnung, was denn nun stimmt. In den Kommentaren finden sich in der Folge allerlei Mutmaßungen und der übliche Quatsch.

Kein Interesse mehr an faktischen Substraten

Dabei hätte es auch bei dieser Story faktische Substrate gegeben, und das ist für mich der entscheidende Punkt: Der Bericht zitiert wiederholt eine Ausschreibung des Ministeriums, aber der Wortlaut der Ausschreibung wird niemals angeführt. Der Bericht zitiert ein vom Bildungsministerium in Auftrag gegebenes Gutachten, aber aus dem Gutachten wird an keiner Stelle direkt zitiert. Wäre es nicht Aufgabe des Journalismus gewesen, hier zu den Fakten selbst vorzudringen? Was ist das für ein Journalismus, der statt Ausschreibungstext und Gutachten lieber Pressemitteilungen und Interview-Statements zitiert?

Falsch verstandener Konstruktivismus

Meine Hypothese lautet: Das ist ein falsch verstandener postmoderner, postfaktischer Konstruktivismus, der womöglich auch noch an den Universitäten und sonstigen Ausbildungsorganisationen so vermittelt wird. Das Phänomen ist nicht neu, es wurde bereits in den frühen 1970er Jahren von der amerikanischen Soziologin Gaye Tuchman beschrieben: Ein Journalist oder eine Journalistin glaubt, objektiv zu sein, wenn er A und Nicht-A berichtet hat. Boulevardmedien haben seit jeher diesen Dualismus ignoriert, sie können es sich leisten, entweder auf A oder auf Nicht-A zu setzen. Deren Erfolgsmodell ist unter anderem auch die nicht-ambige Botschaft, die eindeutige Wirklichkeit und Wahrheit.

Aber was ist mit sogenannten „Qualitätsmedien“ wie dem „Standard“? Genügt es diesem auch, einfach von A und Nicht-A zu erzählen, oder will er wissen, was Sache ist? Qualitätsmedien denken offenbar, Qualität und Objektivität seien garantiert, wenn A und Nicht-A wiedergegeben werden. (Man stelle sich ein wissenschaftliches Paper vor, das nur aus Auffassungen und Gegenauffassungen zu einem Thema besteht.)

„Januskopf-Journalismus“ ermöglicht erst „false balance“

A und Nicht-A werden kaum einmal in der Relation 50 : 50 berichtet. Der Journalist oder die Journalistin hat dramaturgische Möglichkeiten, seine oder ihre Präferenz für die eine oder andere Seite den Leser*innen mitzuteilen. Es gibt genügend dramaturgische Tricks, die über rein quantitative Entscheidungen hinausgehen. So kann etwa der Informant einer Story mit einem entscheidenden Zitat belohnt werden. Oder es werden unter dem Vorwand des Redaktionsgeheimnisses „anonyme Beobachter“, „Kenner der Szene“, „enge Vertraute“ etc. zitiert, die eine von zwei Seiten favorisieren. Das Problem des „false balance“, also der nicht-repräsentativen falschen Ausgewogenheit zwischen Wirklichkeit A und Wirklichkeit Nicht-A entsteht erst bei einem Journalismus, der sich diesem Dualismus verschrieben hat.

Meines Erachtens wäre es eine gigantische Marktlücke im Journalismus, endlich dem „Januskopf-Journalismus“ und der „false balance“ abzuschwören und den Sachen auf den Grund zu gehen. Mit Gutachten, Behördenpapieren oder Judikatur. Aber es ist halt unendlich einfacher und ökonomischer, sich einfach nur zwei Seiten anzuhören: zwei E-Mails oder zwei Telefonate, und fertig ist die Story.

Am Ende stehen Fake News-Vorwurf und Zensur

Das Problem führt letztlich zu Situationen, die einen zum Verzweifeln bringen, wie zur Medienberichterstattung über den derzeitigen Ukraine-Krieg: Natürlich spricht Unzähliges dafür, dass unsere Interpretationen stimmen und Russland manipuliert. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Russland genau das Gegenteil behauptet. Es fehlt hier ein Weltmedium im Internet, das für die globale Wahrheit steht und eben den Fakten tatsächlich auf den Grund geht. Wir haben es auch hier wieder mit einem extrem gefährlichen Dualismus von Wirklichkeit A und Wirklichkeit Nicht-A zu tun.

6 Kommentare zu “Jenseits der Fakten: „Januskopf-Journalismus“ gefährdet die Demokratie

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  1. Ralf Rath

    Sich mit dem so genannten „Januskopf-Journalismus“ als Wissenschaftler auseinanderzusetzen, quittieren manche Zeitungen sogar mit einem Ausschluss aus dem Diskurs. So erteilte mir etwa die „Frankfurter Rundschau“ schon vor einiger Zeit für ihren Blog ein Hausverbot. Auch die „Süddeutsche Zeitung“ veröffentlicht in ihrem Leserforum meine Beiträge inzwischen nicht mehr. Anstatt also die kostenfrei angebotene Hilfe für sich notwendig zu nutzen, schlagen zumindest die beiden genannten, vermeintlichen „Qualitätsmedien“ sie lieber in den Wind.

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    1. Stefan Weber Beitragsautor

      Das ist wieder so ein aus dem Kontext gerissener Snippet. Wer ist der „he“, vom dem hier gesprochen wird? Trump? Ich höre keinesfalls raus, dass das das Verständnis der Journalistin wäre.

    2. Franz F. Graf

      Welchen Kontext? Es ist doch völlig wurscht, wen die hier konkret meint. Es geht vielmehr darum, dass sie als Journalistin für sich und ihr Kollegen unmissverständlich beansprucht, den Medienkonsumenten vorgeben zu dürfen, was diese denken sollen! Wieso relativieren Sie dieses anmaßende Verhalten mit irgendwelchen Spitzfindigkeiten? Sie wissen doch aus eigener Erfahrung auf Twitter, was Journalisten grosso modo für eine Mischpoke sind.

  2. KarfreItag

    Etwas verwundert bin ich schon, welch naive Vorstellung der Blogmaster zu haben scheint: Es scheint für ihn die „eine“ und erkennbare Wahrheit zu geben. Auch scheint für ihn zum Thema Ukraine-Krieg als Ganzes nur entweder „unsere“ („A“) oder Russlands Sicht („Nicht-A“) wahr zu sein.

    Dabei haben wir doch am erst unlängst am Beispiel der Corona-Berichterstattung gesehen, wie sich Ansichten von einzelnen Experten und Regierungen im Laufe der Zeit „gewandelt“ haben (auch abseits von zeitlichen Änderungen des Virus, der Infektionen etc.).

    Verschiedenste Interessens-Vertreter haben leider bei vielen Themen Gründe, die Sicht auf diese Themen zu beeinflussen (was mit Sicherheit gerade auch bei einem „Weltmedium“ der Fall wäre). Im Einflussbereich von politischen Thematiken konnten so (in Österreich) nicht nur im Journalismus sondern sogar im Bereich der Universitäten (wo einst die Wissenschaft zu Hause war) Tabus etabliert werden, die einem Diskurs weitgehend entzogen sind. Ironisch: Es lebe der Fortschritt!

    Und wie sieht es bei uns selbst aus: Meinen wir nicht auch die sichere „Wahrheit“ (je nach politischer Haltung) bei einigen Themen zu kennen? – Warum sollte es sich bei Journalisten anders verhalten (selbst wenn sie nicht Opfer gezielter Beeinflussungen sind), insbesondere dann, wenn sie – bewusst oder unbewusst – eine ideologische oder religiöse Haltung zu transportieren versuchen?

    In Bezug auf simple Themen wie im Beispiel der Tablets für Schulen ist dem Autor natürlich zuzustimmen.

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  3. Thomas Bauer

    Danke sehr, Stefan. War Zeit, das einmal so deutlich zu sagen. Denn genau das heißt eben nicht Recherchieren, Ausloten und Ausdeuten, sondern Abgeben, sich Abputzen. Objektivität ist keine Eigenschaft des Berichtes, wie immer so selbstverständlich gesagt wird, sondern des Berichtens, zuerst eine Qualität des journalistischen Handelns, und erst dann eines des Objekts, das man verhandelt, sie ist nicht nackte Wahrheit, sondern, sondern Deutungswahrheit. Hab ein schönes Osterfest, alles Liebe, Thomas

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