20 Jahre „gute wissenschaftliche Praxis“ in Österreich: Was getan wurde und welche Baustellen es gibt

Es ist ja nicht so, dass gar nichts passiert wäre: Die Hochschulen Österreichs veröffentlichten seit 2002 sukzessive ihre jeweils eigenen Richtlinien für gute wissenschaftliche Praxis. 2008 wurde die „Österreichische Agentur für wissenschaftliche Integrität“ (ÖAWI) gegründet. 2015 wurde der Plagiatsbegriff nach einer Diskussion mit Stakeholdern (Uniko, ÖAWI, mdw) erstmals im Universitätsgesetz verankert. 2021 erfolgte die zweite Tranche der Verankerung des Themas „gute wissenschaftliche Praxis“ – diesmal in allen vier österreichischen Hochschulgesetzen.

Die Probleme, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, habe ich hier in diesem Blog wiederholt aufgezeigt:

  • Manche Richtlinien für gute wissenschaftliche Praxis sind veraltet und müssten dringend aktualisiert werden (die Richtlinie der Universität Wien stammt aus dem Jahr 2006, die der TU Wien aus dem Jahr 2007, die der Universität Klagenfurt aus dem Jahr 2008, deren Ombudsstellen-Richtlinie sogar noch aus dem Jahr 2003). Veraltete Richtlinien, die auf den Webseiten der Universität auch noch bestens versteckt sind (siehe etwa Universität Wien), zeigen nicht an, dass einer Universität das Thema wirklich wichtig ist.
  • Die Universitäten werden zu KI-generierten Inhalten Stellung beziehen müssen. Ich sehe bislang keine GWP-Richtlinie, die dies tut.
  • Universitäten prüfen immer noch mit der „falschen“ Software (wie etwa die Universitäten Graz und Klagenfurt mit „Docoloc“) oder sie prüfen anno 2023 noch gar nicht systematisch (siehe etwa die TU Wien). Sie verfolgen auch, wenn sie mit der „richtigen“ Software arbeiten, nicht den „Portfolio-Ansatz“ (dieser besagt ganz simpel: alle Abgaben eines jeden Studierenden werden geprüft).
  • Die ÖAWI hat zwar dankenswerterweise 2015 erstmals GWP-Richtlinien für den gesamten österreichischen Hochschulsektor formuliert, diese sind aber meines Erachtens ebenfalls verbesserungswürdig. Außerdem tritt die ÖAWI als aktiver Akteur, als Antreiber für eine positive Entwicklung viel zu wenig in Erscheinung, das letzte Newspost auf der Website ist etwa fast schon ein Jahr alt. Und mehrere Empfehlungen der ÖAWI aus der Vergangenheit wurden von den betreffenden Hochschulen nicht richtig kommuniziert, siehe nur den Fall Aschbacher.
  • Der gesamte für die Ausbuchstabierung in den Satzungen erforderliche gesetzliche Unterbau (vor allem die Basisbegriffe „Plagiat“ und „Vortäuschen“) ist inkonsistent.

Es gibt also zahlreiche Baustellen, wenn man das Thema „gute wissenschaftliche Praxis“ endlich in seiner ganzen Bandbreite wahrnehmen und dynamisch-gestaltend und nicht bloß reagierend angehen möchte.

Ein Blick auf 20 Jahre GWP-Entwicklung in Österreich legt zudem zwei problematische Aspekte frei:

1. Es wurde immer anlassbezogen, aufgehängt an großen Fällen, gehandelt. Ohne „prominente“ Fälle in den Medien hätte es wohl gar keine institutionellen und legistischen Veränderungen gegeben. Die Wissenschaft sollte aber nicht punktuell reagieren, sondern allgemeine Entwicklungen im Blick haben, auf Basis empirischer Evidenz (die wir in Österreich zu dem Thema definitiv nicht haben, da jede GWP-Forschung bislang politisch verhindert wurde).

2. Das Wissenschaftsministerium hat immer in Defensivhaltung reagiert: Schon 2014 wollte es Studiensperren erst ab dem zweiten schwerwiegenden Plagiatsversuch vorsehen, was sogar der Uniko zu wenig weit ging. 2020, vor dem Fall Aschbacher, hat sich das BMBWF für eine Verjährungsfrist von 30 Jahren für Plagiate und andere Täuschungen in Bezug auf die Frage der Titelaberkennung stark gemacht. Nur die Causa Aschbacher brachte diesen Plan zu Fall.

In der folgenden Tabelle jeweils links der prominente Anlassfall und jeweils rechts die Reaktion bzw. Umsetzung in Österreich:

 

1997 Fälschungsfall Herrmann/Brach in der Krebsforschung, 1998 erste DFG-Denkschrift zu GWP 2002 erste Richtlinien der Österreichischen Rektorenkonferenz zu GWP in Anlehnung an die Denkschrift der DFG
2007 Urologie-Vorwürfe Innsbruck, Plagiatsvorwürfe gegen Hahn, Biedermann u.a. 2008 Gründung der ÖAWI
2011-13 Plagiatsfälle und Rücktritte Guttenberg, Schavan u.a. in Deutschland; zweite Plagiatsprüfung Hahn 2014-15 Aufnahme des Plagiatsbegriffs ins UG, neue Sanktionsmöglichkeiten (BMBWF wollte abgeschwächte Sanktion), erste Richtlinien der ÖAWI
2021 Fall Aschbacher 2021 Novelle aller vier Hochschulgesetze mit GWP, Verbot von Ghostwriting (BMBWF wollte vorher Verjährung nach 30 Jahren bei Titelaberkennungen)
2022 Plagiatsvorwurf gegen Karner 2022 Einstellung einer ÖFG-ARGE zu GWP und eines Projekts zu GWP an der TU Wien

 

Wie wird es weitergehen? – Die Entwicklung ging also nicht, wie es etwa ein Zeitschriftenbeitrag aus dem Jahr 2021 suggeriert, von Plagiatsskandalen zur „good scientific practice“, sondern umgekehrt von der guten wissenschaftlichen Praxis zu Plagiatsskandalen: Das Gerüst einer guten wissenschaftlichen Praxis steht in Deutschland seit 1998, in Österreich in abgespeckter Form seit 2002. Ich habe die ersten großen Plagiatsfälle („Wickie und die starken Männer“, Hubert Biedermann und Johannes Hahn) ab 2006 veröffentlicht. Es hätten also schon alle wissen müssen, was GWP-Standards sind, bevor die ersten großen Plagiatsfalle bekannt wurden.


Hinweise:

Kostenloses Webinar zu ChatGPT und zum Portfolio-Ansatz bei der Plagiatsprüfung am 06.06.23

Buch „Auf Plagiatsjagd. Eine Streitschrift“ im September 2023 bei Edition Atelier

8 Kommentare zu “20 Jahre „gute wissenschaftliche Praxis“ in Österreich: Was getan wurde und welche Baustellen es gibt

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  1. Joseph zu Treistenthal

    Plagiate, diese mäandernden Exkurse der Intertextualität, die den modernen Schreibakt durchziehen wie ein funkelndes Gewebe aus Diebstahl und kreativer Aneignung. Eine Symphonie der Narration, komponiert aus fremden Noten, von Dichtern und Denkern vergangener Zeiten. Doch wie ein Schatten, der über den kulturellen Horizont zieht, wirft das stille Phantom des Plagiats einen düsteren Schleier auf die künstlerische Schöpfung.

    Und Wien, die Stadt der Kaffeehäuser, der Paläste und der unendlichen kulturellen Pracht! In ihren Straßen hallen die Fußstapfen von Literaturgrößen vergangener Jahrhunderte wider, von Mozart bis Freud, von Schiele bis Klimt. Ein Schmelztiegel der Inspiration, ein Hort des kreativen Schaffens, der wie ein Magnet auf Künstler und Intellektuelle aus aller Welt wirkt.

    Doch inmitten dieser schillernden Kulturmetropole erhebt sich die trügerische Schattenexistenz von Heinrich Kleist. Ein Geist der Vergangenheit, dessen Werke und Ideen durch die Zeit schweben wie ein unergründliches Rätsel. Ein Mann, der es wagte, mit den Konventionen seiner Zeit zu brechen, und dabei das Schreiben zu einer revolutionären Kunstform erhob. Seine unkonventionellen Ansätze und stilistischen Meisterleistungen faszinieren noch heute die Literaturwelt, doch auch sein Schicksal und seine widersprüchliche Persönlichkeit werfen Fragen auf, die bis heute unbeantwortet bleiben.

    In diesem Kaleidoskop von kulturellen Einflüssen, geprägt von der Aura Wiens und der Schaffenskraft von Heinrich Kleist, manifestieren sich die Dialektiken des Plagiats. Denn in einer Welt der permanenten Referenzen, der intertextuellen Verweise und der vielschichtigen Bedeutungsebenen ist es schwer zu sagen, wo Originalität endet und Plagiat beginnt. Ist es eine Hommage oder eine schamlose Kopie? Ist es eine künstlerische Collage oder ein Diebstahl des geistigen Eigentums anderer? Oder ist es am Ende nur eine Illusion, eine Kollision von kreativen Kräften, die sich unaufhaltsam in einem Strudel der Vieldeutigkeit vereinen?

    Vielleicht liegt die Antwort auf diese Fragen im Auge des Betrachters, in der subjektiven Wahrnehmung jedes Einzelnen. Doch eines ist gewiss: Die Welt der Plagiate, Wiens kulturelle Melange und das schillernde Erbe von Heinrich Kleist sind untrennbar miteinander verwoben, und bilden eine komplexe, faszinierende und unendlich interpretierbare Symbiose von Literatur, Kunst und Geschichte.

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    1. Ralf Rath

      Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele hielt Carl Friedrich von Weizsäcker im Juli 1975 den Vortrag mit dem Titel „Das Schöne“. Darin zitiert der als einer der letzten Universalgelehrten geltende Forscher unausgesprochen das Evangelium nach Matthäus und den dortigen Vers: „Was fragst du mich über das, was gut ist? Gut ist nur Einer“ (Mt. 19, 17). Soll somit heutzutage eine wissenschaftliche Praxis gut sein, heißt das keinesfalls, sich in einem geradezu „luziferischen Griff nach absoluter Macht“ (Haag, 2018: 92, 2. Aufl.) zu üben. Insofern ist Ihr Plädoyer, Joseph zu Treistenthal, der Weizsäcker’schen Kritik frontal zuwider, „nicht Abglanz des einzig Guten, sondern selbst die Mitte (zu) sein“ (ders., 1977: 144), von vonherein zum Scheitern verurteilt. Bereits die empirisch stets vollständige Wirklichkeit schließt aus, dass „der Teufel wieder auf(ersteht)“, wie Adorno in einer Notiz vom November 1968 zur zweiten Auflage der „Negativen Dialektik“ bemerkt. Erst vergangenen Herbst anlässlich der Willy-Brandt-Lecture 2022 ist der interessierten Öffentlichkeit zumindest in Deutschland denn auch aus berufenem Munde zu verstehen gegeben worden, wie wenig die gegenwärtigen Herausforderungen einer globalen Polykrise zu meistern sind, wenn man sich auf diese Weise im Zuge eines zutiefst falsch verstandenen Begriffs der Emanzipation weigert, notwendig auf der Höhe der Zeit zu handeln und womöglich völlig rückwärtsgewandt sich dadurch insbesondere in Plagiaten verliert.

    2. Sepp Treistenthaler

      Schön, dass Ihnen der Text gefällt.
      Ich werde es dem Autor (ChatGPT) ausrichten.

  2. Ralf Rath

    Plagiate sind nichts Neues. So stand ein Angehöriger des Tübinger Stifts bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Verdacht, den Philosophen Hegel noch zu seinen Lebzeiten plagiiert zu haben (Stiftsarchiv, Promotion Strauß 1825-1830). Eher erstaunt, dass rund zwei Jahrhunderte später darüber erst eine Auseinandersetzung zur Frage stattfindet, was eine gute wissenschaftliche Praxis konstituiert; wobei „wir das Gute, das Absolute nicht darzustellen vermögen, jedoch bezeichnen können, worunter wir leiden, was der Veränderung bedarf und alle darum Bemühten in gemeinschaftlicher Anstrengung, in Solidarität verbinden sollte“ (Horkheimer, in: Frankfurter Allgemeine v. 8.8.1969). Das hat weitreichende Konsequenzen. Wenn vor allem von „guter“ Arbeit die Rede ist, sollte deswegen schon im Ansatz der Versuch unterlassen werden, auf den Begriff zu bringen, was ihm dadurch von vornherein stets entzogen ist. Realiter ist es schlicht nicht ermöglicht, das Gute an einer Arbeit positiv zu bestimmen. Sich dennoch dazu anzuschicken, bedeutet, kontrafaktisch zu handeln. Juristisch betrachtet, ist man dann eine erhebliche Gefahr für sich selbst und die Rechtsgüter anderer. Wenn man so will, ist angesichts dessen der Schluss zulässig, dass nicht zuletzt der frühere deutsche Verteidigungsminister Guttenberg, aber auch die ehemalige deutsche Bildungsministerin Schavan einer „Ökonomie der Zerstörung“ (Adam Tooze) frönten, bevor ihnen der Doktorgrad entzogen worden ist und zumindest universitär den äußerst vernunftwidrigen Umtrieben damit ein jähes Ende bereitet war.

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  3. Sven Schroder

    Seit 2010 betreibt SW seinen »Blog für wissenschaftliche Redlichkeit«.

    Was war der Auslöser? Reaktion auf einen (prominenten) Anlassfall? Fall S. Lang? Fall J. Hahn?

    Auf Ihr Buch „Auf Plagiatsjagd. Eine Streitschrift“ freue ich mich.

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    1. Stefan Weber Beitragsautor

      Fall Lang? Superhirn Schroder weiß mehr, als die Erinnerung des Plagiatsjägers reicht. Ich müsste in der Tat nachdenken, was mich dazu bewogen hat. Ich glaube, es war die Unzufriedenheit mit der Fallabwicklung in der 2008 gegründeten ÖAWI. Jedenfalls ging 2010 die Website plagiatsgutachten.de online. Für diese sprach, dass es Nachfragen nach Bezahlgutachten gab. Vor 2010 war ich nur in den Medien zum Thema präsent und hatte keine Website. Und da hielt ich es für sinnvoll, dann auch zu bloggen. Zur Erinnerung: https://www.diepresse.com/575707/plagiatsjaeger-weber-startet-aufdecker-blog

  4. Alexander S.B. Reiner

    „Es hätten alle wissen müssen…“

    Ja, stimmt….

    Aber in einem Land mit so vielen Erinnerungs- und Wahrnehmungslücken… Echt schon besorgniserregend….

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